Rollen orientieren sich an den Stärken von Personen. Diese wählen ihre Aufgaben selbst und sie wachsen daran. Von Anne M. Schüller erfahren Sie mehr.
Menschen und künstliche Intelligenzen bewegen sich mit beeindruckendem Tempo aufeinander zu. Vor uns liegt eine Zeit, in der alles anders sein wird als jemals zuvor. Nichts ist mehr auf Jahre hinaus planbar. Permanente Umbrüche sind völlig normal. Von nun an wird man sich aufmachen müssen, ohne den genauen Weg schon zu kennen. Fest verankerte Vorgehensweisen sind dabei nur hinderlich. Das Denken und Handeln in schnellen Iterationen ist von nun an Voraussetzung für den Erfolg.
Doch in traditionellen Unternehmen besetzt man immer noch Stellen, die unmittelbar an eine Person gebunden sind. Dafür sucht man Kandidaten mit einem fest umrissenen Aufgabenpaket. „So manches Stelleninserat enthält kein Anforderungsprofil, sondern regelrechte Anforderungskataloge mit gut und gerne einem Dutzend Kriterien“, schreibt der Recruting-Kenner Jörg Buckmann. Wird die Stelle dann obsolet, weil zum Beispiel KI den Job übernimmt, hat man keine Verwendung mehr für den Stelleninhaber.
Adaptivität bei Wissen und Können ist elementar
So meldete Anfang 2019 ein großer Software-Anbieter die Entlassung von über 4000 Beschäftigten und mehr oder weniger gleichzeitig die umfängliche Suche nach Mitarbeitern mit Spezialkenntnissen auf neuen Kompetenzgebieten. Ein solches Vorgehen ist nicht nur extrem teuer, es sorgt auch für böses Blut. Ein Denken in Rollen statt Stellen, bei dem nicht Spezialisten kommen und gehen, sondern Generalisten mit hoher Lernbereitschaft stets neue Aufgaben einnehmen können, wäre besser geeignet.
Doch als Stelleninhaber hat man die Pflicht, die laut Stellenbeschreibung fest umrissenen Tätigkeiten bestmöglich abzuarbeiten. Dafür wird man bezahlt. Fertigkeiten hingegen, die der Stelleninhaber zwar besitzt, im Rahmen seiner Stelle aber nicht benötigt, gehen dem Unternehmen verloren. Wertvolles Leistungsvermögen verpufft. Heißt: Man passt den Menschen an die Stelle an – und nicht umgekehrt. So blockieren eng gefasste Stellenbeschreibungen auch die Potenzialentfaltung.
Feste Stellen fixieren die Unternehmen in Starrheit
Eine Stelle definiert überdies den dazugehörigen Zuständigkeitsbereich. Wofür man nicht zuständig ist, darum hat man sich nicht zu kümmern. „Das ist nicht Ihre Aufgabe“, hört der Stelleninhaber, wenn er sich in etwas „einmischt“, das nicht zu seiner fest umschriebenen Position gehört. Seine Hilfe wird selbst dann zurückgewiesen, wenn sie dringend notwendig wäre. „Das steht nicht in meiner Stellenbeschreibung“, heißt es hingegen, wenn man Aufgaben übernehmen soll, für die man nicht eingestellt wurde.
Das Denken in Stellen und Positionen vereitelt es ferner gar nicht so selten, dass ein Vorgesetzter einen „seiner“ Mitarbeiter in ein Projekt abgibt. Was aus sachlichen Gründen richtig wäre, scheitert am Thema Macht. Wer einen Bonus für das Erreichen von Abteilungszielen bekommt, wird „sein bestes Pferd“ keinem anderen Bereich zur Verfügung stellen, um diesen nicht zu stärken. Tja, macht man Stellen zum Spielball internen Wettbewerbs, ist das für ein Unternehmen zwar schädlich, oft aber üblich.
Rollen gewährleisten eine enorme Flexibilität
Demgegenüber arbeitet man in zeitgemäßen Organisationen zunehmend mit Rollen. Rolle und Person sind dabei voneinander getrennt. Hierdurch kann die Aufgabenverteilung viel flexibler an die sich ständig verändernden Umstände angepasst werden. Je nach Bedarf werden kurzfristig neue Rollen kreiert. Wenn kein Bedarf mehr besteht, werden diese sogleich wieder aufgelöst. Durch solch kurzfristiges Justieren verhindert man auch, dass die eine Person zu viel, und die andere zu wenig Arbeit hat.
Eine Person kann mehrere Teilrollen übernehmen und/oder in mehreren Projektteams arbeiten. Eine Rolle kann je nach Umfang auch durch mehrere Personen ausgeübt werden. Oder sie wird nur zeitweise besetzt. So können Arbeitsspitzen viel besser ausgeglichen werden. Und Kompetenzbedarfe lassen sich situativ sehr zügig decken, ohne gleich neue Mitarbeiter einstellen zu müssen. Auch Rollenwechsel oder ein interdisziplinärer Austausch sind jederzeit möglich, ohne dass Machtthemen bremsen.
Die Rolleninhaber entwickeln sich dynamisch
Der jeweilige Rolleninhaber erklärt sich verantwortlich für die Aufgabenpakete, die zu seiner Rolle gehören. Was die Rolle darf und was nicht, wird in Vereinbarungen festgelegt und öffentlich sichtbar gemacht. So kann es zum Beispiel die Rolle des Pricing Managers geben, der die Autorität hat, bei den ihm zugeordneten Produkten die Preise zu bestimmen, ohne sich Genehmigungen „von oben“ einholen zu müssen.
Rollenkonzepte orientieren sich an den Stärken einer Person. Der Rolleninhaber tut das, was er am besten kann und auch mag. Zudem kann er sein individuelles Potenzial interessenbasiert weiter ausbauen und sich in neue Bereiche hineinentwickeln. So ermöglichen Rollenkonzepte auch dem einzelnen Mitarbeiter mehr Flexibilität. Je nach Lebensphase lässt sich der Aufgabenumfang seiner Rolle erhöhen oder reduzieren.
Rolleninhaber definieren ihre Aufgaben selbst
Am besten beschreibt ein Rolleninhaber seinen Aufgabenbereich selbst. Durch die damit verbundene Selbstreflexion wird der Sinn der eigenen Arbeit im Gesamtkontext klarer und die Verbindlichkeit steigt. Zudem werden Motivation, Engagement und Produktivität zusehends verstärkt. Folgende Fragestellungen sind dazu von Belang:
- Was sind meine Aufgaben und mein konkreter Beitrag für das Unternehmen?
- Mit welchen Bereichen arbeite ich zum Wohl unserer Kunden zusammen?
- Was brauchen die Kollegen von mir, und was brauche ich von den Kollegen?
- Was behindert mich bei meiner Arbeit und wie kann ich das ändern?
- Wie kann ich meine Arbeit weiter verbessern und was muss ich dazu lernen?
Hierbei listet man nur die Aspekte, die die jeweilige Rolle betreffen.
Die Rollen können pfiffige Namen bekommen
Besteht Klarheit über die einzelnen Punkte, wird die Rolle schriftlich definiert:
- Wie heißt die Rolle?
- Was ist der Sinn und Zweck dieser Rolle?
- Welches sind die Verantwortungsbereiche?
- Welche Beschränkungen gibt es (zum Beispiel Budgetrestriktionen)?
Oft wählen die Rolleninhaber für sich pfiffige Namen, etwa so: Content Magier, Customer Care Hero, Intergalactic President, Master of the IT-Universe, Head of Flow, Social-Media-Derwisch. Möchte man den Grad der Kompetenz zum Ausdruck bringen, stellt man dem ein Junior oder ein Senior voran. Elon Musk nennt sich neuerdings Technoking of Tesla, sein CFO Zach Kirkhorn ist Master of Coin. Die neuen Titel sind sogar offiziell bei der US-Börsenaufsicht eingetragen.
So kann die Rollenverteilung gut gelingen
Damit es zu einem möglichst perfekten Match zwischen Kompetenzträger und Rolle kommt, schaffen dezentrale Organisationen Rollenmärkte. Sie bestimmen also nicht, wer welchen Aufgabenkomplex übernimmt, sondern favorisieren Freiwilligkeit. „Wer will das machen?“, heißt es. Jemand meldet sich und wählt damit eine passende Rolle aus. Oder man wird vom Team für eine Rolle vorgeschlagen beziehungsweise gewählt. So ist es sehr wahrscheinlich, dass sich die jeweils kompetenteste Person durchsetzt.
Menschen wählen in solchen Fällen nur nach Beliebtheit? Weit gefehlt! Denken Sie zurück an die Schulzeit. Galt es, im Mannschaftsport zu gewinnen, hat man die Besten ins eigene Team gewählt. Je nach Sportart waren das ganz verschiedene Leute. Die Menschen haben ein ziemlich gutes Gespür dafür, wer in einer jeweiligen Situation der Richtige ist. Wichtig: Wie im Sport sollte auch im Firmenkontext ein Rolleninhaber problemlos von seiner Rolle zurücktreten können, wenn die Passung nicht mehr stimmt.
Das Buch zum Thema – auch als Hörbuch erhältlich
Anne M. Schüller, Alex T. Steffen
Die Orbit-Organisation
In 9 Schritten zum Unternehmensmodell
für die digitale Zukunft
Gabal Verlag 2019, 312 Seiten, 34,90 Euro
ISBN: 978-3869368993
Finalist beim International Book Award 2019
Anne M. Schüller ist Managementdenker, Keynote-Speaker, mehrfach preisgekrönte Bestsellerautorin und Businesscoach. Die Diplom-Betriebswirtin gilt als führende Expertin für das Touchpoint Management und eine kundenfokussierte Unternehmensführung. Zu diesen Themen hält sie Impulsvorträge auf Tagungen, Fachkongressen und Online-Events. 2015 wurde sie für ihr Lebenswerk in die Hall of Fame der German Speakers Association aufgenommen. Beim Business-Netzwerk Linkedin wurde sie Top-Voice 2017 und 2018. Von Xing wurde sie zum Spitzenwriter 2018 und zum Top Mind 2020 gekürt. Ihr Touchpoint Institut bildet zertifizierte Touchpoint Manager und zertifizierte Orbit-Organisationsentwickler aus.