In Deutschland wurden noch nie so viele arbeitende Menschen mit psychischer Überlastung gezählt wie heute. Führungskräfte haben eine Schlüsselrolle, wenn es darum geht, Stress im Team zu verringern. Ein Beitrag von Gabriele Stahl, Partner, und Maximilian Contzen, Principal, bei Odgers Berndtson.
Ein Faktor für mentale Herausforderungen sind die Krisen dieser Zeit: Rezession und Preisanstiege, Klima, Krieg, Corona et cetera. Ein anderer ist der digitale Stress, der Dauerdruck, sich an eine immer schnellere technologische Entwicklung anzupassen – nicht zu vergessen die anderen Trends, die unsere Lebens- und vor allem Arbeitswelt umwälzen, von Agilität bis Homeoffice.
Und während bei den einen die Angst vor der betriebsbedingten Kündigung wächst, hält bei den anderen die strukturelle Überlastung an, weil der Arbeitgeber keine qualifizierte Verstärkung für das eigene Team findet. Kommt jetzt noch ein unerwarteter persönlicher Tiefschlag hinzu, ist das für manche Menschen zu viel des Belastenden. Sie können nicht mehr.
Nein, es ist keine Überraschung, was das Robert Koch Institut (RKI) auf Basis monatlicher Befragungen von 1.000 bis 3.000 Personen festgestellt hat: Das psychische Befinden erwachsener Menschen in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert. Unter „auffälligen Belastungen durch depressive Symptome“ etwa litten laut dem „Mental-Health-Surveillance-Bericht“ des RKI im Oktober 2023 knapp 20 Prozent der Bevölkerung, fast doppelt so viele wie 2019. Auffällige Angstsymptome zeigten etwa 12 bis 14 Prozent, im Vergleich zu acht Prozent im 2021.
Das macht sich auch beruflich bemerkbar: Im Jahr 2002 waren fast zehn Prozent der von der Deutschen Rentenversicherung bewilligten ambulanten Rehabilitationsmaßnahmen in Deutschland auf psychische Erkrankungen zurückzuführen. Bis zum Jahr 2022 waren es fast 19 Prozent. So darf es nicht weitergehen. Hinter den Zahlen steckt zigtausendfaches persönliches Leid, von den betriebs- und volkswirtschaftlichen Kosten einmal abgesehen.
Immerhin: Psychische Störungen und Erkrankungen haben in den vergangenen Jahren viel von ihrem Stigma verloren. Es wird immer offener über negativen Stress und seine Auswirkungen gesprochen, auch im Jobumfeld. So hat sich die Zahl der Arbeitnehmerinnen und -nehmer in Deutschland, die Psychotherapie in Anspruch nehmen, in den letzten 20 Jahren beinah verdoppelt. Und zumindest in größeren Unternehmen erhalten Betroffene vermehrt nicht nur Aufmerksamkeit und Zuspruch, sondern auch Tipps, was sie tun können und wo sie weiterreichende Hilfe erhalten.
Mit Fragen und Zuhören fängt es an
Aber so groß die Fortschritte auch sind, sie sind nicht groß genug. 2022 waren rund 20 Prozent der berufstätigen Männer und Frauen in Deutschland so stark von Stress betroffen, dass sie ihren Arbeitsplatz aufgeben mussten. Umso bedrückender ist es, dass laut Statista im November 2021 nur etwa 35 Prozent der Menschen angaben, das Gefühl zu haben, sowohl mit ihren Kollegen als auch mit ihrer Führungskraft offen über psychische Belastungen sprechen zu können.
Zumal laut diversen Studien können gerade die direkten Vorgesetzten und ihr Verhalten großen Einfluss auf Mitarbeitende haben – und zwar bei der Entstehung wie bei der Bewältigung psychischer Leiden. Für fast 70 Prozent der Menschen, so eine Forbes-Studie, ist dieser Einfluss eigener Einschätzung nach sogar größer als der ihres Therapeuten oder Arztes, nämlich genauso groß wie der des Partners oder der Partnerin. Überdies können Führungskräfte maßgeblich zu einer Unternehmenskultur beitragen, in der das psychische Wohlergehen der Beschäftigten Priorität hat.
Führungskräfte müssen Sensibilität und Offenheit üben
Nicht allen Führungskräften ist dieser Einfluss und die damit verbundene Verantwortung bewusst. Sie müssen lernen, ihr gerecht zu werden. Das gilt vor allem für sehr junge, aber auch für ältere, an ein traditionelles, dirigierendes Selbstverständnis gewöhnte Führungskräfte. Immerhin hat bei vielen mit der Covid-bedingten Umstellung auf Homeoffice ein Lernprozess eingesetzt. Sie haben ein Verständnis für die alltägliche Überschneidung zwischen Privat- und Berufsleben und Stärken und Schwächen der einzelnen Mitarbeitenden entwickelt.
Darauf gilt es aufzubauen. Führungskräfte bis hinauf ins Topmanagement müssen für psychische Überlastung und den Umgang mit Burn-out-gefährdeten Mitarbeitenden sensibilisiert sein. Das beginnt mit einigen grundlegenden Prinzipien:
- Das eigene Wohlergehen steht an erster Stelle. Psychisch überlastete Führungskräfte können keine Hilfe für ihre Mitarbeitenden sein. Eher werden sie eine zusätzliche Last.
- Einfühlungsvermögen zeigen. „Wie würde ich mich fühlen, wenn jemand so mit mir spräche, wie ich es manchmal mit meinen Mitarbeitenden tue?“ Sich das zu fragen, kann so einfach sein, wie Interesse an den Kolleginnen und Kollegen zu zeigen. Schon ein „Wie geht es Dir?“ kann Vertrauen und Kraft vermitteln, wenn es denn aufrichtig ist.
- Führungskräfte dürfen nicht versuchen, ihr Team zu schützen, indem sie möglichst viel Arbeit selbst übernehmen. Das ist anstrengend für sie selbst und ein schlechtes Vorbild für die Mitarbeitenden. Geeignete Aufgaben sollten lieber delegiert und Kolleginnen und Kollegen ein effizientes Arbeiten ermöglicht werden.
- Gemeinschaft und Sinn zu stiften, ist ebenfalls Führungsaufgabe. Beschäftigte, die ein Ziel teilen und den Wert ihrer Arbeit für das Unternehmen kennen, haben in der Regel ein besseres Verhältnis zu ihrer Arbeit und sind belastungsresistenter. Dies gilt insbesondere in einer Welt des hybriden Arbeitens, in der es viel weniger persönliche Kontakte gibt.
Mitarbeitende kommen zum Unternehmen und verlassen ihre Vorgesetzten: Haben Organisationen die Führungskräfte, die diesen Kreislauf durchbrechen? Und wenn nein, wo können diese gefunden respektive ausgebildet werden? Diese Fragen verlangen dringend Antwort. Denn wo kompetente Führung fehlt, verlieren Unternehmen Mitarbeitende, sei es aufgrund von Überlastung oder vorheriger Kündigung. Und das lässt sich auf einem vom demografischen Wandel gezeichneten Arbeitsmarkt immer weniger kompensieren.
Lesen Sie auch die folgenden Beiträge:
- 7 Empfehlungen: Fehlzeiten aufgrund psychischer Belastungen reduzieren
- Resilienz und Ambiguitätstoleranz: Die „Stehaufmännchen-Qualitäten“ künftiger Führungskräfte
- Mentales Wohlbefinden: Das Management überzeugen
Gabriele Stahl ist seit 1990 bei Odgers Berndtson tätig. Als Partnerin und Leiterin der Industry Consumer Products & Services in Deutschland berät sie internationale und nationale Markenunternehmen in den Food- und Nonfood-Segmenten sowie Handelskonzerne und Multichannel-Unternehmen.
Maximilian Contzen ist Principal im Münchner Büro von Odgers Berndtson und Mitglied der Technology, CIO und Business & Professional Services Practice. Vor seinem Wechsel zu Odgers Berndtson war er sechs Jahre im Recruiting bei renommierten Top-Strategieberatungen tätig. Foto: Odgers Berndtson