Automatisiertes „Standard“-Coaching, „Premium-Coaching“, Blended Coaching: Alexander Brungs, Vorstand Deutscher Coaching Verband, wirft einen Blick in die Zukunft.
Der Coaching-Markt hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant entwickelt und ist nach wie vor stark in Bewegung. Coaching ist mittlerweile zu einem festen Bestandteil der Personalentwicklung auf verschiedensten Hierarchieebenen in zahlreichen deutschen Unternehmen geworden – für Praktikanten bis zu den CEOs. Gründe für den steigenden Bedarf sind vor allem veränderte Bedingungen und Anforderungen des modernen Arbeits- und Führungsalltages: steigende Komplexität und Schnelligkeit, eine höhere Informationsdichte, eine veränderte Führungskultur sowie zunehmender Leistungsdruck.
Automatisierung von Prozessen – auch im Coaching
Die durch die Pandemie stark forcierte Digitalisierung in Geschäftswelt und öffentlichem Leben hat sich auch auf die Coaching-Branche ausgewirkt. Wir beobachten aufmerksam die Entwicklung im Markt der ‚Digital Coaching Providers‘ (DCPs), die nach wie vor höchst dynamisch ist und häufig auf Geschäftsmodellen beruht, die den inhaltlichen Qualitätsansprüchen der meisten seriösen Berufsverbände nur unzureichend Rechnung tragen können. Am Horizont zieht die Gefahr eines vollautomatisierten „Standard“-Coachings herauf, das beschönigend als „demokratisiertes Coaching für alle“ verkauft werden soll. Was ist damit gemeint?
Kostendruck bei gleichzeitiger Nachfragesteigerung führt in unseren Tagen beinahe zwangsläufig zur Automatisierung von Prozessen, wo dies halbwegs sinnvoll möglich scheint; im Bereich der Psychologie und allgemeinen Persönlichkeitsentwicklung gibt es bereits einigermaßen erfolgreiche Anwendungen von sehr spezialisierten Programmen in der verhaltenstherapeutisch orientierten Psychotherapie bis hin zu oft noch recht einfältig wirkenden Apps zur alltäglichen Achtsamkeitsübung oder ähnlichem.
Massentaugliche Online-Produkte versus „Premium-Coaching“
Auf den ersten Blick scheint automatisiertes Coaching besonders gewinnbringend für „normale“ Beschäftigte, denen zuvor nicht verfügbare Leistungen zugänglich werden. Allerdings wird dabei meist verkannt, dass Coaching im Wesentlichen dazu dient, nicht etwa typisierte Themen und Problemfelder nach standardisierten Verfahren zu erfassen und zu bearbeiten, sondern vor allem ganz persönliche Bedürfnisse, Motive, Anforderungsprofile, Arbeitsbedingungen etc. in den Blick zu nehmen, also gerade das Besondere hinter dem Allgemeinen zu adressieren. Das ist automatisiert nicht möglich, sondern nur in einer persönlichen Beziehung. Die empirische Wirkungs-Forschung hat eindrucksvoll bestätigt, dass die Qualität der persönlichen Beziehung zwischen Coach und Klient Kernfaktor für den Coaching-Erfolg ist.
Eine mögliche Konsequenz der fortschreitenden Digitalisierung und Virtualisierung weiter Bereiche der Lebens- und Arbeitswelt kann sein, dass 2030 zwar auch für Coaching digitale, automatisierte Massenprodukte zur Verfügung stehen, darüber hinaus allerdings hochwertige, individuell angepasste Coachingangebote stark nachgefragt werden. Dieses „Premium-Coaching“ findet – was dann als besonderes Qualitätsmerkmal gelten wird – in signifikantem Umfang „face to face“ statt. Die Klienten werden gerade die Erfahrung einer im direkten Kontakt in realer, persönlicher Präsenz sich formenden vertrauensvollen Zusammenarbeit zu schätzen wissen und dazu gerne aus einem digitalisierten Alltag voller sekundärer Informationen und Reize heraustreten.
Das Beste aus zwei Welten: Hybride Coaching Formate
Coaching basiert auf zwischenmenschlicher Kommunikation und Interaktion, und Menschen sind leibliche Wesen, keine Avatare. Eben deshalb ist davon auszugehen, dass Präsenzcoaching auch in Zukunft relevant bleiben wird. Online-Coaching Formate, aktuell gehypt und wegen ‚Social Distancing‘ nicht wegzudenken, werden vor allem aufschließende und unterstützende Funktionen erfüllen: Die Schwelle zur initialen Kontaktaufnahme wird herabgesetzt, die Auftragsklärung erleichtert.
Im laufenden Prozess dann lassen sich regelmäßige Updates zur Reflexion und Übungen online mit vertretbarem Ressourcenaufwand schnell realisieren und bieten damit eine sinnvolle Ergänzung zu Präsenztreffen; manche Tools etwa zur Aufstellungsarbeit oder Ressourcenaktivierung können im virtuellen Raum sogar differenzierter realisiert und intuitiver gehandhabt werden.
Es bietet sich an, Präsenz- und Onlinesequenzen– je nach Zweck und Ziel – wirksam zu verknüpfen. Die Zukunft gehört hybriden Formaten wie dem Blended Coaching, die Präsenz- und virtuelle Formate kombinieren.
2030 werden Digitalkompetenzen benötigt, um Coaching in verschiedenen Formaten anbieten und auswählen zu können. Coachingprozesse werden individueller angepasst sein und aus virtuellen und realen, langen und kurzen, Online und Offline-Einheiten bestehen.
New Work Coaching – Herausforderung für Organisationen
Ein Blick auf wahrscheinliche Entwicklungswege der zukünftigen Arbeitswelt zeigt, dass auch für die Organisationen, in denen potentielle Klienten beschäftigt sind, die Bedeutung von Coaching steigen wird. Es steht außer Frage, dass New-Work-Konzepte inzwischen allein aufgrund der pandemiebedingten Notwendigkeit von Remote Work in vielen Bereichen der Arbeitswelt angekommen sind.
Ob das durchweg positiv zu werten ist, kann diskutiert werden. Es ist jedenfalls offensichtlich, dass mit dieser Entwicklung besonders die Art und Weise unserer Zusammenarbeit vor Herausforderungen gestellt ist. Gewohnte verbindende Rituale wie etwa der Smalltalk am Kaffeeautomaten oder kurze Wege der Verständigung über unterschiedliche, situationsabhängige Kanäle sind virtuell nicht abbildbar; jede Kommunikationssituation muss individuell justiert und bewusst ausgehandelt werden.
Unternehmen stehen nun vor der Aufgabe, valide Perspektiven und grundlegende Verlässlichkeit zu schaffen: einen stabilen Tätigkeitsrahmen mit nachvollziehbaren Entwicklungsoptionen – für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf allen betrieblichen Ebenen. Sowohl das Arbeiten aus dem Homeoffice als auch das Führen virtueller Teams, die gegebenenfalls zeitzonenübergreifend arbeiten, bringen Beschäftigte oft an persönliche Leistungsgrenzen. Werden diese zu weit ausgereizt oder überschritten, sind die Türen für Fehler, Überlastung oder auch unproduktiven und wiederum ermüdenden Leerlauf geöffnet.
Vor diesem Hintergrund zeichnet sich ab, dass klassisches Coaching künftig enger mit Formaten der Organisationsberatung verschränkt sein wird, was sich mancherorts bereits in der Coaching-Ausbildung manifestiert. Umso mehr müssen Coaches unter diesen Bedingungen aber darauf achten, ihre Rolle zu wahren und ihr qua Coach genuines Gegenüber nicht ins Hintertreffen geraten zu lassen: die je individuelle Persönlichkeit der Coachees.
Organisational Coaching
Wir gehen davon aus, dass in einem Unternehmen auf Personalebene verfügbare Ressourcen bestmöglich genutzt werden, wenn die individuellen Ressourcen aller Beschäftigten bestmöglich auf die Zwecke des Unternehmens hin zur Entfaltung gebracht werden können. Sprich: wenn individuelle und Organisationsziele weitgehend produktiv zusammenwirken können. Die Ziele einer Organisation, eines Unternehmens, werden so zwar besser oder schlechter mit den Zielen der einzelnen Beschäftigten abgestimmt, jedoch niemals deckungsgleich sein können, sich gegebenenfalls auch widersprechen.
Da Coaches nicht in erster Linie den Interessen der Organisation, sondern den (wohlverstandenen) Interessen Einzelner – ihrer Coachees – verpflichtet sind, folgt daraus die Notwendigkeit eines klaren Rollenbewusstseins mit unter Umständen auch klarer Abgrenzung gegen die Organisationsberatung. Qualifizierte Coaches helfen dabei, den individuellen Ort in komplexen Umgebungen zu reflektieren, persönliche Handlungsoptionen auszuloten und hierfür relevante Ziele abzustecken. All dies ist wiederum essenziell für den Erfolg eines Unternehmens im Ganzen, doch nicht zwangsläufig damit identisch.
Blick in die Glaskugel
Für die Coachingverbände ergibt sich aus den geschilderten Tendenzen im Blick auf das Jahr 2030 folgender Aufgabenhorizont: In einem weiterhin dynamischen Marktumfeld gilt es, wirklich valide und transparente, stetig weiterentwickelte und überprüfte Qualitätskriterien für Coaching klar zu kommunizieren und durchzusetzen. Diese kooperativ und unabhängig von v.a. wirtschaftlichen Interessen der Auftraggeber, Anbieter und Ausbilder erarbeiteten und gepflegten Standards müssen gegebenenfalls glaubhaft gegenüber vornehmlich technikgetriebenen Akteuren, wesentlich organisationalen Interessen oder auch sachfremder politischer Einflussnahme verteidigt werden.
Gleichzeitig bedarf es des Ausbaus und der Sicherung von Strukturen, die es allen Verbandsmitgliedern, also den Coaches, erleichtern, die erwähnten Qualitätssicherungserfordernisse unter persönlich leistbarem und ökonomisch sinnvollem Ressourceneinsatz zum Gewinn aller an einem Coaching Beteiligten zu erfüllen.
Dr. Alexander Brungs ist seit 2010 als Coach tätig und seit 2016 Vorstand im Deutschen Coaching Verband e.V. (DCV). Diesen repräsentiert er auch im Roundtable Coaching e.V. (RTC). Nach seinem Studium in Göttingen, Erlangen und Rom war Brungs an mehreren internationalen Forschungsprojekten beteiligt und unterrichtete an verschiedenen Universitäten in Deutschland und der Schweiz im Fach Philosophie. Neben dem Einsatz als Coach ist er derzeit auch Projektmitarbeiter an der Professur für Neuere Geschichte (deutsch-jüdische Geschichte) der Universität Potsdam.