Das Gutsein wird bei Aristoteles zum Maßstab des menschlichen Handelns, ist der höhere Zweck, so Professor Patrick Peters. Dies weist den Weg zum modernen Verständnis von Purpose.
Der Paradigmenwechsel vom Shareholder zum Stakeholder Value ist in der Breite der Wirtschaft angekommen. Das Konzept, sich im Sinne der Gemeinschaft zu betätigen und das Gute als verbindendes, übergeordnetes Prinzip zu verstehen, lässt sich schon beim antiken Philosophen Aristoteles vorfinden. Das Gutsein ist demnach der höhere Zweck und das Ziel der Existenz. Das sollten Leadership-Konzepte bedenken.
Ethik, das ist ein großes Wort und ein jahrtausendealtes philosophisches Konzept. Die Ethik ist jener Teilbereich der Philosophie, der sich mit den Voraussetzungen und der Bewertung menschlichen Handelns befasst und ist das methodische Nachdenken über die Moral. Im Zentrum der Ethik steht das spezifisch moralische Handeln, insbesondere hinsichtlich seiner Begründbarkeit und Reflexion.
Ethik als Bezeichnung für eine philosophische Disziplin geht auf Aristoteles zurück, der damit die wissenschaftliche Beschäftigung mit Gewohnheiten, Sitten und Gebräuchen (ethos) meinte. Aristoteles bezieht sich dabei vor allem auf den Glücksbegriff (Eudaimonie) als Kern der antiken Philosophie. Der Begriff geht auf das altgriechische „εὐδαιμονία“ zurück, das so viel bedeutet wie „von gutem Geist“. Demnach formuliert Aristoteles in der „Nikomachischen Ethik“ (zitiert als „NE“) die Eudaimonie als das für einen Menschen höchste Gut.
Antikes Glücksverständnis spielt für moderne Leadership-Überlegungen eine herausragende Rolle
Das Endziel der menschlichen Existenz ist die Erlangung des eigentlichen, des echten Guten, das an der Spitze aller Güter steht. Somit besteht die Hauptaufgabe der philosophischen Ethik darin zu bestimmen, was das höchste Gut ist. Bei Aristoteles heißt es konkret: „Jede Technik und jede Methode, desgleichen jedes Handeln und jedes Vorhaben zielt, wie es scheint, auf irgendein Gut ab; deshalb hat man das Gute treffend als das bezeichnet, worauf alles abzielt.“ (NE I 1, 1094a)
Gerade dieses ethische Verständnis des Glücksbegriffs spielt für moderne Leadership-Überlegungen, insbesondere in den Generationen Y und Z, eine herausragende Rolle. Das Gute ist ein verbindendes, übergeordnetes Prinzip, das sich nicht in Details verstrickt und auch nicht nur in Bruchstücken verstanden werden kann. Der, der wirklich gut sein will, muss dies als Globalziel anerkennen.
Das Gutsein wird zum Maßstab des Handelns
Bei Aristoteles klingt das so: „[W]enn wir aber als Funktion des Menschen eine bestimmte Lebensweise ansetzen, und zwar eine Tätigkeit der Seele und Handlungen mit Vernunft, als Funktion des guten Menschen, diese gut und angemessen zu tun, und wenn jede Handlung nach der (dem Menschen) eigentümlichen Tugend vollendet wird, dann ist das Gut für den Menschen eine Tätigkeit der Seele gemäß der Tüchtigkeit; wenn es aber mehrere Arten von Tüchtigkeit gibt, dann gemäß der besten und zielhaftesten; und das noch dazu in einem vollen Menschenleben. Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und auch nicht ein Tag. So macht auch ein Tag oder eine kurze Zeit keinen selig und glücklich.“ (NE I 6, 1098a)
Es genügt nicht, tugendhaft und gut sein zu wollen. Die täglichen Handlungen müssen diesem Vorsatz entsprechen, um wirklich gut zu sein. Das Gutsein wird zum Maßstab des Handelns, und glücklich ist damit der, „der gemäß der vollkommenen Tugend tätig und mit äußeren Gütern hinlänglich versehen ist, nicht eine beliebige Zeit hindurch, sondern durch sein ganzes Leben“ (Aristoteles (2019): Nikomachische Ethik. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger. Durchgesehene Ausgabe. Reclam: Stuttgart, S. 397).
Das bedeutet: Das Gutsein wird zum Maßstab des Handelns, ist der höhere Zweck und das Ziel der Existenz, sodass dies bereits den Weg zum modernen Verständnis von Purpose weist: Die Purpose-Orientierung stiftet einen übergeordneten Sinn, der nicht durch beiläufige Handlungen zu erreichen ist. Das Gute als Zweck des Lebens ist menschliche Handlungsmaxime und identitätsstiftende Kategorie. Dieses identifikatorische Potenzial hat auch das Purpose im unternehmerischen Kontext. Der Purpose-Begriff steht für den höheren Zweck einer Organisation (i.e. in der Regel ein Unternehmen), der im Sinne der wertorientierten Unternehmensführung deutlich über die Gewinnorientierung hinausgeht.
Wandel vom Shareholder zum Stakeholder Value ist endgültig gekommen
Dies findet sich im Paradigmenwechsel vom Shareholder zum Stakeholder Value wieder. „Das Stakeholder Konzept zeigt, im Gegensatz zum Shareholder Value Ansatz, dass neben den Eigentümern weitere Gruppen für den Erfolg der Unternehmen von Bedeutung sind. Der Nutzen, den die Stakeholder der Unternehmung geschaffen haben oder den das Unternehmen für die Stakeholder darstellt, wird im Rahmen dieses Konzeptes hingegen nicht bewertet.“ (Figge, Frank und Stefan Schaltegger (2000): Was ist „Stakeholder Value“? Vom Schlagwort zur Messung. Lüneburg, S. 9)
Demzufolge stellten Stakeholder der Unternehmung Ressourcen zur Verfügung, solange das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung aus ihrer Sicht vorteilhaft sei. Wesentliches Merkmal von Stakeholdern sei die gegenseitige Abhängigkeit, das heißt, dass Anspruchsgruppen im Erreichen ihrer Ziele vom Unternehmen abhingen und das Unternehmen von ihnen abhänge. Dabei handelt es sich nur bei einem Teil der Beziehungen zwischen Stakeholdern um Markttransaktionen. Es bestehen auch vielfältige Beziehungen innerhalb von Organisationen.
Das Shareholder Value geht bekanntlich auf Milton Friedmans Doktrin „The business of business is business“ von 1970 zurück und hat nichts mit aristotelischer Eudaimonie oder Purpose zu tun. Der Manager im Sinne Milton Friedmans stellt den Profit über alles andere. Die gelebte Verantwortung für Mitarbeiterinnen / Mitarbeiter, Kundinnen / Kunden und Gesellschaft rückt geschäftsmäßig eine Reihe nach hinten beziehungsweise bezieht ihre Existenzberechtigung rein aus einer normativen Gesetzesethik heraus.
Ethisches, soziales Wohlverhalten ist nurmehr extrinsischer Zwang, keine intrinsische Motivation und erst recht keine organisationale Leitstruktur. Vielmehr sieht Milton Friedman jeden sozial-ethischen Zweck unter einer ökonomischen Prämisse: „Or that [the manager] is to make expenditures on reducing pollution beyond the amount that is in the best interests of the corporation or that is required by law in order to contribute to the social objective of improving the environment.“
Unternehmen müssen sich einem echten Sinn widmen
Durch den Purpose-motivierten Paradigmenwechsel von Shareholder zu Stakeholder Value hingegen erfährt die werteorientierte Unternehmensführung eine dezidierte Performance-Attribution. Betriebswirtschaftliche Parameter wie Umsatz oder Gewinn sind als Unternehmenszwecke zweitrangig geworden. Im Fokus steht, dass sich Unternehmen einem echten Sinn widmen. Damit bewegt sich der Purpose-Begriff sehr nahe am Verständnis von Glück nach Aristoteles: Wie Eudaimonie das ultimativ erstrebenswerte Ziel des Menschen aus der Sicht des vierten vorchristlichen Jahrhunderts ist, ist Purpose die Losung für die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Es ist das, was wirklich gewollt ist und zu einem höheren Gut hinweist.
Hubert Holy schreibt: „The purpose of a business is to make a positive difference in the work, serving all stakeholders — customers, suppliers, the community, and shareholders — in a harmonious fashion. Turning a profit is an imperative and an outcome but not the ultimate goal. Companies must be designed as ‚human organizations’ that are guided by a noble purpose and that put people at the center. This applies not just in good times but also when times get tough.“ (Joly, Hubert (2021): „How to Lead in the Stakeholder Era: Focus on purpose and people. The profits will follow.“ In: Harvard Business Review (Reprint H06CH2), S. 3)
Eudaimonie für alle ist die Aufgabe von Führungsethik und Purpose
Purpose ist somit als übergeordnetes Managementprinzip zu verstehen, um Arbeit, Sinn und Zweck zusammenzubringen: Es ist die Stakeholder-Orientierung schlechthin, diese drei Elemente zu verbinden, um über alle Stakeholder-Ebenen hinweg das Purpose des Unternehmens zu verankern und den nachhaltigen Wert über betriebswirtschaftliche Kennziffern hinaus zu kommunizieren und zu positionieren. Lebens- und Arbeitszeit soll einem höheren Zweck dienen, der nicht intrinsisch-hedonistisch motiviert ist. Das ist die große Brücke von Aristoteles ins 21. Jahrhundert: Eudaimonie für einen und für viele zugleich ist die Aufgabe von Führungsethik und Purpose in der Ära des Stakeholder Capitalism.
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Ethik und Nachhaltigkeit als Performance-Attributoren
Dr. Patrick Peters, MBA, ist Professor für PR, Kommunikation und digitale Medien an der Allensbach Hochschule in Konstanz, an der auch Wirtschaftsethik und Diversity Management lehrt. Er ist auch als freier Publizist und Berater tätig und befasst sich mit Ethik und Kommunikation.