Sie verfügen über eine fundierte fachliche Berufsausbildung. Und sie sind sehr gefragt. Lukas Erlebach, CEO von Joblift, über den Grey-Collar-Mangel.
Der deutsche Arbeitsmarkt ist das Zuhause für etwas mehr als 45 Millionen Beschäftigte. Diese große Anzahl an Menschen teilt sich auf in hunderte Berufsfelder und berufliche Tätigkeiten von A wie Alterspflege bis Z wie Zerspannungsmechanik. Dieses weite Feld an Jobs erfordert jeweils völlig unterschiedliche fachliche, soziale und emotionale Qualifikationen sowie Ausbildungsvoraussetzungen.
Trotzdem kommt die Arbeitsmarktforschung derzeit mit genau zwei Begrifflichkeiten aus, um all diese Berufe und Werdegänge zu segmentieren: „White-Collar“ und „Blue-Collar“. Die damit gemeinte Unterscheidung ist schlicht. Dem „White-Collar-Arbeitsmarkt“ werden kurzerhand alle Menschen zugeordnet, die eine akademische Ausbildung besitzen. Dem „Blue-Collar-Segment“ gehören dagegen alle Beschäftigten ohne akademische Ausbildung an.
Unterscheidung „White-Collar“ und „Blue-Collar“ wird Arbeitsmarkt nicht mehr gerecht
Diese Unterscheidung wird dem aktuellen Arbeitsmarkt des 21. Jahrhundert aber längst nicht mehr gerecht. Denn es gibt zahlreiche Berufe, für die es kein Hochschulstudium braucht, die aber trotzdem hochspezialisiert sind und vor allem arbeitgeberseitig stark nachgefragt werden. Die Zeiten, in denen man den viel zitierten Fachkräftemangel als rein akademisches Phänomen einstufen konnte, sind lange vorbei.
Die Recruiting-Wirklichkeit ist eine andere: Profile wie Mechatroniker / Mechatronikerinnen oder Technische Zeichner / Zeichnerinnen treiben Personalabteilungen in der industriellen Fertigung Schweißperlen auf die Stirn. Die IT-Branche stellt so viele Quereinsteiger ohne Informatikstudium ein wie lange nicht und das Handwerk ächzt unter einem nie gesehenen Arbeitskräftemangel. Es wird Zeit für all diese Berufe, die nicht zweifelsfrei dem White- oder Blue-Collar-Segment zuzuordnen sind, den bereits bestehenden Begriff des „Grey-Collar-Arbeitsmarkt“ fester in der HR-Diskussion zu verankern.
Grey-Collar-Arbeitskräfte sind Nutznießer des Kandidatenmarktes
Starten wir mit dem Versuch einer Definition, der die klassische Einordnung in Akademiker / Akademikerinnen und Nichtakademiker / Nichtakademikerinnen überwindet und die arbeitgeberseitige Nachfrage sowie den fachlichen Werdegang einbezieht. Demnach sind Menschen aus dem „Grey-Collar-Bereich“ zunächst keine Akademiker. Dafür verfügen sie aber über eine fachliche Berufsausbildung. Zudem sind sie Nutznießer der Entwicklung im modernen Recruiting von einem Arbeitgebermarkt zu einem Kandidatenmarkt, in dem es mehr suchende Arbeitgeber als Kandidatinnen / Kandidaten gibt. Das bedeutet: Die Selektionsorientierung im Recruitingprozess steht eher auf ihrer als auf Seite der Arbeitgeber.
Erstaunliche Bandbreite der Jobs
Klassische Grey-Collar-Jobs aus dem Dienstleistungssektor sind von erstaunlicher Bandbreite. Piloten / Pilotinnen gehören ihr ebenso an wie Flugbegleiterinnen / Flugbegleiter, Gastronomen genauso wie Hotelfachangestellte, Fachberater wie Call Center Agents, Facility Manager/-innen wie Elektrotechniker/-innen, Dachdecker/-innen wie Schreiner/-innen und viele mehr. Im industriellen Bereich sprechen wir beispielsweise über die bereits genannten Mechatroniker/-innen, Bauchtechniker/-innen, Industriekaufleute oder über Handwerker jeglicher Stoßrichtung – von Schreiner/-innen über Schlosser/-innen bis hin zu Anstreicher/-innen.
Im öffentlichen Dienst besteht die größte Herausforderung der nächsten Jahre darin, die Nachfolgeregelung der Belegschaften in den einzelnen Teilbereichen – von der Polizei über die Bundeswehr bis hin zur Verwaltung und dem Bildungswesen – zu regeln. Experten gehen davon aus, dass alleine in den kommenden 10 Jahren mehr als 1,3 Millionen Beschäftigte öffentlicher Arbeitgeber in den Ruhestand gehen – eine gewaltige Recruiting-Aufgabe, die eben vor allem Grey-Collar-Jobs betrifft.
Polizistinnen / Polizisten, Pflegekräfte, Feuerwehrmänner und -frauen, Erzieherinnen / Erzieher, Verwaltungsfachangestellte, Soldaten / Soldatinnen aber auch IT-Spezialisten/-innen, die den Digitalisierungsprozess einleiten und statt eines Studiums eine Ausbildung zum Fachinformatiker gemacht haben, gehören zu diesem Bereich.
Hohe Sinnstiftung und KI-Resistenz als Kennzeichen
Wie wichtig Grey-Collar Berufe für Gesellschaften sind, zeigt uns erst jetzt wieder die Covid-Pandemie. Denn nicht wenige Jobs aus diesem Umfeld kennzeichnet eine hohe Sinnstiftung – ein Trend, der so hoch im Kandidaten-Kurs steht wie selten zuvor. Essenzielle Berufsgruppen wie Polizei, Bedienstete in Krankenhäusern, Beschäftigte in Gesundheitsämtern oder im öffentlichen Nahverkehr erwiesen sich in den letzten 18 Monaten als wichtiges Rückgrat der Gesellschaft. Schwer zu finden ist ihr Nachwuchs trotzdem, was eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre für Wirtschaft und Gesellschaft werden dürfte.
Eine weitere Besonderheit an Grey-Collar Profilen ist, dass diese nur in den wenigsten Fällen durch technische Innovation oder digitale Entwicklungen wie der künstlichen Intelligenz ersetzt werden können. Die immer älter werdende Gesellschaft ist nicht durch Algorithmen betreubar. Das müssen auch in Zukunft Pflegekräfte machen. Kinder werden weiterhin von Menschen auf das Erwachsenenleben vorbereitet und Dächer lassen sich nicht mit einem Chatbot decken.
Es wird Zeit, dass wir wissen, über wen wir sprechen
Für Arbeitgeber wird es zukünftig darum gehen, sich in erster Linie mit den Kandidatinnen / Kandidaten auseinanderzusetzen, die in der Vergangenheit weniger intensiv analysiert wurden als etwa Akademiker. Dabei geht es um Fragen wie: Welche Motivation treibt „Grey-Collar-Beschäftigte“ beruflich an? Welche Benefits interessieren sie? Welche Aufgaben finden sie interessant? Mit welchen Attraktivitätsmerkmalen sind sie überzeugbar? Fragen, die für Akademikerinnen / Akademiker doppelt und dreifach beantwortet wurden – für Blue- und Grey-Collar aber eben noch nicht zu Genüge. Der Prozess, um zu den richtigen Antworten zu gelangen, beginnt mit der passenden Eingrenzung der Personengruppe. Es wird Zeit, über „Grey-Collar-Kandidat/-innen“ zu sprechen – höchste Zeit.
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Photos: ©Envato/Rido81 / ©Twenty20/@ringsfoto / ©Twenty20/@ilinca.ciubotariu
Lukas Erlebach ist Mitgründer und CEO von Joblift, der Recruiting-Plattform für den Blue- und Grey-Collar Arbeitsmarkt. Mit seinen mehr als 70 Mitarbeiterinnen / Mitarbeiter, einem internationalen Team in Hamburg und Berlin, arbeitet er täglich daran der Recruitingprozess für Bewerberinnen / Bewerber und Arbeitgeber transparenter, einfacher und schneller zu gestalten. Das Ergebnis: mehr als 4 Millionen User jeden Monat, die auf www.joblift.de nach genau dem passenden Job suchen.