Thema „Bewerbung“: Es wird Zeit, die Wahrheit zu sagen!

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Das bekannte Bewerbungssystem funktioniert in 2021 nicht mehr, meint Recruitingspezialist Henrik Zaborowski. Höchste Zeit zum Umdenken für die Arbeitgeber.

Tipps rund um die Karriere und die Bewerbung sind immer gefragt. Fast jede/r will sich irgendwann mal beruflich verändern, idealerweise: verbessern. Das Thema ist zeitlos und ändern sich nur marginal. Statt der Frage nach der richtigen Bewerbungsmappe vor 20 Jahren geht es heute um die perfekte Bewerbungs-E-mail. Bewerbungstipps wird es immer geben. Die Frage ist: Zu Recht? Ich habe daran meine Zweifel.

Dabei haben Bewerbungsratgeber ihre Berechtigung. Wer sich nach zehn Jahren im Job das erste Mal wieder bewirbt, ist oft unsicher, wie ein Lebenslauf heute auszusehen hat, freut sich über eine Formatvorlage und auch Tipps, wie er/sie sich auf ein Vorstellungsgespräch vorbereiten sollte. Diese Basics sind ja alle noch OK. Kritisch wird es, wenn die Ratgeber versuchen zu erklären, warum jemand eine Absage bekommt. Und was sich dagegen tun lässt.

Krude Tipps der Ratgeber

Denn das ist ja nun eigentlich genau die Frage, die alle Jobsucherinnen / Jobsucher umtreibt: “Warum habe ich eine Absage bekommen, ich habe doch perfekt gepasst!? Was habe ich falsch gemacht?” Und hier wird es problematisch. Denn jetzt kommen die Ratgeber mit kruden Tipps. Zum Beispiel wie die richtige Betreffzeile in der E-mail Bewerbung aussehen oder welche Schriftart, -größe und Zeilenabstand das Anschreiben haben muss. Was der perfekte erste Satz im Anschreiben ist. Wie lang ein Lebenslauf auf keinen Fall sein darf. Wie ich meine Persönlichkeit transportiere. Wie ich die Bewerbungsunterlagen so gestalte, dass sie auffallen, aber eben auch nicht zu viel. Dass es ein Test der Unternehmen ist, wenn sie keine Ansprechpartnerinnen / Ansprechpartner für die Bewerbung nennen. Weil sie schauen wollen, welche Bewerberinnen und Bewerber sich die Mühe machen, den richtigen Kontakt herauszufinden. Welche Fragen ich auf jeden Fall in einem Bewerbungsgespräch fragen sollte. Und mit welchen Antworten ich garantiert eine Absage bekomme.

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Bewerbungs- und Personalauswahlsystem ist ein einziges Glücksspiel

Das liest sich alles wahnsinnig klug und nachvollziehbar – und verortet den Schuldigen auf der Bewerberseite. Wenn ich als Bewerberin / Bewerber alle Tipps richtig befolgt hätte, dann hätte es mit meiner Bewerbung / dem Vorstellungsgespräch auch geklappt. Der Fehler liegt bei mir. Nur ist diese Aussage einfach Blödsinn. Denn die Wahrheit ist, dass unser Bewerbungs- und Personalauswahlsystem in Deutschland ein einziges Glücksspiel ist.

Was auch fast nicht anders sein kann, wenn wir uns klar machen, dass eine den potentiellen Jobsuchenden unbekannte Person (der/die Hiring Manager/in) über eine weitere Person (HR) per schriftlicher Kommunikation ein mehr oder weniger gut beschriebenes Jobangebot veröffentlicht und wiederum mehr oder weniger gut geschriebene schriftliche Interessensbekundungen (Bewerbungen) von unbekannten Personen (Bewerberinnen / Bewerber) bekommt, anhand derer innerhalb von wenigen Sekunden irgendjemand aus irgendwelchen Gründen entscheidet, wer zu einem Interview eingeladen wird. Wie soll das gut funktionieren? Die einzig ehrliche Antwort auf diese Frage ist: Gar nicht!

Es regiert der Zufall

Wenn wir jetzt noch berücksichtigen, dass die allermeisten mit der Personalauswahl betrauten Personen in den Unternehmen in der Regel so gut wie nicht qualifiziert für das Thema sind und Recruiting in der Regel nebenbei machen, dann brauchen wir uns gar nicht mehr wundern, warum viele Jobsuchende es schwer im Bewerbungsprozess haben. Es regiert der Zufall.

Das war schon immer so, aber es war egal. Denn bis vor wenigen Jahren erhielten die Arbeitgeber immer noch ausreichend Bewerbungen auf die meisten ihrer Stellenausschreibungen. Und so lange das der Fall war, blieben auch bei einer schlechten Personalauswahl immer noch genug Bewerberinnen / Bewerber über, deren Bewerbungsunterlagen den Vorstellungen der Unternehmen entsprachen. Warum also sollten die Arbeitgeber etwas ändern?

Fachkräftemangel? Mr./Mrs. Perfect sind immer noch gefragt

Diese Zeiten sind inzwischen aber vorbei. In sehr vielen Berufszweigen herrscht Fachkräftemangel. Richtig, dieser Mangel wird von den Arbeitgebern noch verschärft, weil sie an ihren alten Vorstellungen von der “Mr./Mrs. Perfect Bewerbung” festhalten. “Krumme” Werdegänge, Brüche im Lebenslauf oder komplette Karrierewechsel werden immer noch kritisch beäugt und aussortiert. Oft zu Unrecht.

Aber auch unabhängig von den Fehlern der Arbeitgebern ist der Bewerbermarkt der Spezialistinnen / Spezialisten leer. Selbst Corona hat daran nichts geändert. Heute, August 2021, bekommt fast jede/r Spezialist/-in wöchentlich über die Business Netzwerke dutzendfach Nachrichten mit Jobangeboten und Abwerbeversuchen. Für diese Zielgruppe ist nicht mehr die Frage, wie ich mich richtig bewerbe. Sondern viel eher, wie ich aus den zahllosen Jobangeboten das für mich Richtige herausfinde.

Wer bleibt also als “Markt” für die Bewerbungsratgeberliteratur über? Die geringqualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – und die hochqualifizierten Spezialist/-innen, die aus irgendwelchen Gründen mit ihrem Werdegang nicht dem Anspruch der Geradlinigkeit und Makellosigkeit der Arbeitgeber gerecht werden. Beide Gruppen haben allerdings auch mit den besten Bewerbungstipps nur geringe Chancen auf Erfolg, sofern sie weiter versuchen, den klassischen Bewerbungsweg zu gehen. Und das muss auch einfach mal gesagt werden.

Die Arbeitgeber stehen in den nächsten Jahren vor der immensen Herausforderung, ihre Personalauswahl massiv zu verbessern. Nach den Jahrzehnten, in denen die Bewerberinnen und Bewerber sich Mühe geben, Kontaktpersonen erraten (oder googeln), motivierende Anschreiben schreiben und eine perfekte Karriere vorlegen mussten, hat sich das Blatt gewendet. Das bekannte Bewerbungs- und Personalauswahlsystem deutscher Unternehmen funktioniert nicht mehr. Es basierte auf Oberflächlichkeit und Glück. Beides reicht heute nicht mehr. Das ist die gute Nachricht für alle Bewerberinnen und Bewerber. Die schlechte ist: Keiner weiß, wann die Arbeitgeber das auch wirklich verstehen und ändern werden.

Foto Henrik Zaborowski

Henrik Zaborowski ist Recruitingspezialist mit 20 Jahren Erfahrung. Nach einer ersten gescheiterten Selbständigkeit, zwei eigenen Kündigungen und drei erhaltenen Kündigungen blickt er auch auf ein bewegtes Leben als Bewerber zurück. Und lässt als Personalberater und Trainer sein Wissen und Erfahrung in seine Recruiting Trainings für Unternehmen und seinen Onlinekurs zur beruflichen Orientierung und Jobsuche für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einfließen. Der HUMAN PLACE Onlinekurs erklärt zum einen, worauf es bei der Jobsuche ankommt. Und gibt zum anderen Einblicke in das Recruiting der Arbeitgeber, um Jobsucherinnen und Jobsuchern ein besseres Verständnis zu geben, was mit ihrer Bewerbung eigentlich im Unternehmen passiert.

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