Präsenzarbeit erlebt ein Comeback. Ist das eine Rückbesinnung auf Bewährtes oder eine Kapitulation vor komplexen, hybriden Arbeitsmodellen? Kristina Gerwert, Mitglied des Vorstands der adesso SE, bewertet die Chancen und Herausforderungen der unterschiedlichen Arbeitsmodelle.
Immer mehr große Unternehmen wie jüngst Amazon rufen ihre Belegschaft zurück in die Büros und legen das Thema Homeoffice ad acta. Hat es die Erwartungen nicht erfüllt? Ist Präsenzarbeit also doch der Weisheit letzter Schluss? Oder werden damit viele der Chancen verschenkt, die mit dem Begriff New Work nach wie vor verbunden sind? Er beruht darauf, Präsenzarbeit, Homeoffice und Remote Work in hybriden Arbeitsmodellen sinnvoll miteinander zu verknüpfen. In den vergangenen Jahren hatten wir reichlich Gelegenheit, Erfahrungen mit dem Homeoffice zu sammeln – wenn auch bedingt durch Corona meist unfreiwillig – und ihre Stärken und Schwächen zu analysieren.
Als größter Schwachpunkt hat sich der latente Mangel an sozialer und kreativititätsfördernder Interaktion herausgestellt. Vor allem die Teamarbeit hat häufig unter der Vereinzelung gelitten. Selbst für bestens eingespielte Teams ist es daher sinnvoll, regelmäßig ein bis zwei Tage pro Woche im Office zusammenkommen. Steht ein neues Projekt an oder ändern sich die Ziele oder Teamkonstellationen, können es temporär auch drei bis vier Tage pro Woche sein, um sich aufeinander einzustellen, abzustimmen, Informationen zu teilen, das Projektziel zu schärfen und einen neuen Teamspirit zu entwickeln.
Einstieg und Teamwork im Office
Für junge Kolleginnen und Kollegen, die gerade am Anfang ihres Berufslebens stehen, ist die intensive Präsenz im Office besonders wichtig. Sie hilft dabei, sich nach dem Studium gut in das Berufsleben zu integrieren und schneller einzuarbeiten. Einsteigerinnen und Einsteiger sammeln hier wertvolle Erfahrungen, lernen informell, verstehen Abläufe leichter, lernen die Unternehmenskultur unmittelbar kennen und bauen ein Netzwerk auf.
Das setzt natürlich voraus, dass sie nicht alleine im Office sind, sondern kundige Kollegen und Kolleginnen als Ratgeber und Mentoren vor Ort haben. Selbst erfahrene Neueinsteigerinnen und Neueinsteiger können davon profitieren. Häufig ist auch die dedizierte Zuordnung von Tandems sinnvoll, die sich überwiegend im Büro treffen, um auf das jeweilige Ausbildungs- und Lernziel hinzuarbeiten. Vier Tage pro Woche sind dafür ein guter Richtwert. Damit haben die neuen Mitarbeitenden gleichzeitig auch die Möglichkeit, sich in der verbleibenden Zeit mit der Arbeit im Homeoffice vertraut zu machen.
Dreh- und Angelpunkt bei der Arbeit vor Ort sind und bleiben die Führungskräfte. Ihre Präsenz im Office ist ein zentrales Element, wenn die Zusammenarbeit in den Büros funktionieren soll. Damit ist die Aufgabe verbunden, sichtbar, ansprechbar und nahbar zu sein. Das geschlossene Einzelbüro ist das genaue Gegenteil davon. Menschen wollen gesehen und wahrgenommen werden, um qualifiziertes Feedback für ihre persönliche Weiterentwicklung zu bekommen – und manchmal auch einfach nur ein spontanes Lob.
Vor allem aber geht es für Führungskräfte darum, ihre Mitarbeitenden zu fördern und fordern. Dazu müssen sie ihre Stärken und Schwächen kennen. Das geht nur, wenn sie nahe an ihnen dran sind, sie regelmäßig im Blick haben und sich mit ihnen austauschen. Das Büro ist nun einmal der prädestinierte Ort dafür. Wenn wir es wieder vermehrt ins Zentrum rücken wollen, dann indem wir es zu einem Treffpunkt mit Mehrwert machen: als Hub für Co-Creation, Co-Working, Brainstorming, Kreativität, Austausch und zwischenmenschliche Beziehungen.
Deep Work im Homeoffice
Daher ist und bleibt Präsenzarbeit wichtig. Aber sie ist nicht allein selig machend. Ein Vertriebsmitarbeiter, der ein Angebot erstellt, eine Redakteurin, die recherchiert, oder ein Programmierer, der ein Ticket abarbeitet, können ihrer Tätigkeit im Homeoffice konzentriert und ungestört sehr viel besser nachgehen. Studien zeigen, dass der Stresslevel niedriger und die Zufriedenheit dadurch höher sind. Auch für die reine Wissensvermittlung ist das Office meist weniger ideal. Viele theoretische Inhalte können gut remote gelernt werden, häufig unterstützt durch KI-Werkzeuge. So entsteht im Homeoffice gutes Basiswissen, welches die vom Austausch mit erfahrenen Kolleginnen und Kollegen sowie vom informellen Lernen geprägte Zusammenarbeit im Büro fruchtbarer werden lässt.
Dazu kommen die unterschiedlichen persönlichen Vorlieben. Manche Menschen brauchen den täglichen persönlichen Austausch, andere lieben die Ruhe am heimischen Schreibtisch. Und die meisten präferieren nun einmal einen ganz individuellen Mix aus beidem als motivierende Arbeitsumgebung, in der sie ihre beste Leistung bringen können.
Unternehmen sollten ihnen dafür die optimalen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen schaffen, sei es nun der Zuschnitt der Prozesse oder ganz profan die Bereitstellung der richtigen Kollaborationswerkzeuge. Das ist eine Führungsaufgabe, in der die Erfüllung von Unternehmenszielen mit der Verantwortung für die Mitarbeitenden zusammenläuft.
Für diese ist hybrides Arbeiten auch ein Segen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Es geht also um eine sinnvolle Kombination beider Formate. Und die sieht in jedem Unternehmen anders aus. Das wohl wichtigste Fazit lautet daher: Weder einhundert Prozent Remote Work noch einhundert Prozent Anwesenheitspflicht sind in der Regel die beste Lösung. New Work lebt nicht von Dogmen und Verboten, sondern von flexiblen hybriden Arbeitsmodellen, die das Zusammenschweißen der Teams, gemeinsames Lernen und Wachsen sowie effizientes Arbeiten fördern.
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Kristina Gerwert ist seit dem 1. Juli 2023 Mitglied des Vorstands von adesso und dort in erster Linie verantwortlich für das Ressort Personal, außerdem für eine Tochtergesellschaft im Versicherungssegment und für den Bereich Corporate Buildings. Die Berufung Gerwerts in den Vorstand des international expandierenden Unternehmens unterstreicht die Bedeutung der Mitarbeitenden-Entwicklung – für die nachhaltige Zukunftsfähigkeit von adesso. Die diplomierte Wirtschaftswissenschaftlerin ist im Jahr 2001 bei adesso eingestiegen und war lange Zeit Personalchefin.