Viele mittelständische Unternehmen betrachten HR immer noch als notwendiges Übel und reduzieren es auf reine Personalverwaltung. Warum es entscheidend ist, Personalarbeit zur Chefsache zu machen, erläutert Stefanie Bindzus, Geschäftsführerin des Pneumatikherstellers ITV aus Bielefeld. Sie macht deutlich, dass Führungskräfte im Mittelstand HR nicht nur verstehen, sondern aktiv vorantreiben müssen – und wie Unternehmen gerade jetzt besonders davon profitieren.
Als ich 2009 die Geschäftsführung meines Vaters übernahm, wurde das Thema HR relativ stiefmütterlich behandelt. Da ich mich aber sehr stark für die Menschen im Unternehmen interessierte und ich den direkten Austausch suchte, landete die gesamte Personalarbeit schnell auf meinem Schreibtisch.
Vom Vorstellungsgespräch bis zum Arbeitsvertrag, von der Weiterbildungsplanung bis zum Konfliktmanagement – alles lag plötzlich in meiner Verantwortung. Obwohl ich als Ingenieurin vorher mit HR keine Berührungspunkte hatte, wurde mir schnell klar: Eine professionelle Personalarbeit ist kein Luxus, sondern das Herzstück eines erfolgreichen Unternehmens.
HR als Schlüssel zur Unternehmenskultur
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Was mich am meisten überraschte, war der enorme Bedarf der Mitarbeitenden an HR-Leistungen. Von der Unterstützung bei Anträgen bis hin zum Wunsch nach persönlicher Weiterentwicklung – gute Personalarbeit ist weit mehr als reine Verwaltung. Sie ist der Schlüssel zu einer positiven Unternehmenskultur und langfristiger Mitarbeiterbindung.
In unserem Unternehmen haben wir schrittweise ein ganzheitliches HR-Konzept entwickelt. Ich führe Mitarbeitergespräche und propagiere eine offene Kommunikation. Wir bieten individuelle Weiterbildungsmöglichkeiten und haben ein betriebliches Gesundheitsmanagement inklusive psychologischer Unterstützung eingeführt. Zudem fördern wir den Austausch zwischen den Generationen und ermöglichen flexible Arbeitsmodelle, wo immer es möglich ist. Die Ergebnisse sprechen für sich: Unsere Fluktuation ist minimal, die Mitarbeiterzufriedenheit hoch und selbst in Stresssituationen ziehen alle an einem Strang.
Die wichtigste Eigenschaft für Führungskräfte und HR-Verantwortliche ist meiner Meinung nach Empathie. Nur wer Menschen mag und sich in sie hineinversetzen kann, schafft eine Atmosphäre des Vertrauens. Das ist die Basis für offene Kommunikation und kontinuierliche Verbesserung.
HR als strategische Aufgabe
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Viele Mittelständler sehen HR noch immer als reines Verwaltungsthema. Doch gerade in Zeiten des Fachkräftemangels und sich wandelnder Arbeitswelten ist eine strategische Personalarbeit erfolgsentscheidend. Sie hilft dabei Talente zu finden und zu binden, die Unternehmenskultur aktiv zu gestalten, Veränderungsprozesse erfolgreich umzusetzen, Konflikte frühzeitig zu erkennen und zu lösen und die Innovationskraft zu stärken.
Mein Rat an andere Mittelständler: Machen Sie Personalarbeit zur Chefsache! Auch wenn Sie keine eigene Personalabteilung haben, sollten Sie dem Thema höchste Priorität einräumen. Überlegen Sie, wie Sie selbst als Mitarbeiter behandelt werden möchten und schaffen Sie entsprechende Strukturen. Identifizieren Sie Vertrauenspersonen im Unternehmen, die Sie bei HR-Aufgaben unterstützen können. Investieren Sie in Weiterbildung und externe Beratung, um Ihre HR-Kompetenzen zu stärken.
HR im Alltag verankern
Bei uns im Unternehmen fließen HR-Aspekte in nahezu alle Geschäftsentscheidungen ein. Ob es um die Einführung neuer Prozesse, Digitalisierungsprojekte oder Kundenservice geht – stets fragen wir uns: Wie wirkt sich das auf unsere Mitarbeitenden aus? Welche Unterstützung brauchen sie? Wie können wir ihre Stärken optimal einsetzen? Diese Herangehensweise zahlt sich aus. Unsere Mitarbeitenden fühlen sich wertgeschätzt und bringen sich aktiv in die Unternehmensentwicklung ein. Sie denken mit, entwickeln eigene Ideen und übernehmen Verantwortung – wie kleine Unternehmer im Unternehmen.
Konkrete Maßnahmen für eine starke Personalarbeit
Wir sind immer noch aktiv dabei, ein ganzheitliches HR-Konzept in unserem Unternehmen zu entwickeln. Zwei Beispiele möchte ich hervorheben, die zeigen, wie HR auch in KMUs erfolgreich umgesetzt werden kann:
1. Resilienztraining für alle Mitarbeiter
Als ich bemerkte, dass einige unserer Mitarbeitenden besondere Belastungen zu tragen hatten, entschied ich mich, professionelle Unterstützung anzubieten. In Zusammenarbeit mit einer Psychologin entwickelten wir ein dreimonatiges Resilienztraining für den kaufmännischen Bereich.
Das Programm war umfassend gestaltet: Es beinhaltete Workshops zu Stressbewältigung und Arbeitstechniken, bot jedem Mitarbeitenden die Möglichkeit zu Einzelgesprächen mit der Psychologin und vermittelte praktische Übungen zur Stärkung der mentalen Widerstandskraft. Die Resonanz war überwältigend positiv. Die Mitarbeitenden fühlten sich wertgeschätzt und nahmen das Angebot dankbar an. Aufgrund des Erfolgs planen wir, künftig eine „psychologische Flatrate“ anzubieten – ein dauerhaftes Beratungsangebot für Mitarbeitende.
2. Das Aktiv-Team
Um den Zusammenhalt und die Unternehmenskultur zu stärken, haben wir das „Aktiv-Team“ ins Leben gerufen. Dieses Team, bestehend aus vier bis fünf Mitarbeitenden aus verschiedenen Abteilungen und Altersklassen, organisiert regelmäßige Aktivitäten für die gesamte Belegschaft. Eigenverantwortlich plant das Team vier Aktionen pro Jahr, wobei die Aktivitäten von Wanderungen bis zu Stadtführungen reichen.
Durch diese Initiative wird nicht nur der abteilungsübergreifende Austausch gefördert, sondern auch die Stimmung im Unternehmen verbessert. Zudem hat sich gezeigt, dass dieses Konzept die Eigenverantwortung und das Engagement der Mitarbeitenden insgesamt stärkt.
Zukunftstrends im Blick
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Für die Zukunft sehe ich mehrere HR-Trends als besonders relevant für den Mittelstand: flexible Arbeitsmodelle, die Flexibilität ermöglichen, ohne den persönlichen Austausch zu vernachlässigen. Eine Leistungsbewertung, die sich von der reinen Anwesenheitskultur und dem Dienst nach Vorschrift hin zu ergebnisorientierten Modellen und der Förderung von Eigenverantwortung entwickelt.
Ein effektives Generationenmanagement, das die Stärken verschiedener Altersgruppen zusammenbringt. Kontinuierliches Lernen als Schlüssel zur Zukunftsfähigkeit und ein starkes Employer Branding, um sich als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren.
Fazit: HR als Investition in die Zukunft
Eine starke Personalarbeit ist kein Kostenfaktor, sondern eine Investition in die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens. Sie schafft die Basis für Innovationskraft, Mitarbeiterbindung und langfristigen Erfolg. Meine Erfahrung zeigt: Wer HR zur Priorität macht, erntet motivierte Mitarbeitende, eine positive Unternehmenskultur und letztlich auch bessere Geschäftsergebnisse.
Bei der Personalauswahl empfehle ich, Bewerber vor allem nach ihrer Passung zur Unternehmenskultur einzustellen. Fachliche Fähigkeiten können größtenteils erlernt werden, aber die persönliche Übereinstimmung mit den Werten und der Arbeitsweise des Unternehmens ist der Kitt, der ein Team zusammenhält. Bei der Einstellung neuer Mitarbeitenden sollte daher besonders darauf geachtet werden, wie gut sie menschlich ins bestehende Gefüge passen und ob sie die Unternehmenskultur mittragen und bereichern können.
Auch wenn es anfangs Überwindung kosten mag – trauen Sie sich, Personalarbeit zur Chefsache zu machen. Ihr Unternehmen wird es Ihnen danken.
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Stefanie Bindzus ist geschäftsführende Gesellschafterin der ITV (Industrieteile-Vertriebs GmbH), einem mittelständischen Spezialisten für Pneumatik-Lösungen aus Bielefeld. Als Ingenieurin hat sie sich das HR-Handwerkszeug selbst angeeignet und macht die Personalarbeit zur Chefsache. Ihr Credo: „Better together“ – nur gemeinsam können Unternehmen langfristig erfolgreich sein. Foto: ©ITV