Wie können Sie die Wirkung von Neuromarketing im Recruiting nutzen? Hier kommen Praxistipps zum Neuro-Recruiting von Tarek El-Dabbagh, CHRO bei Infoniqa.
Das Recruiting von Fachkräften wird immer komplexer. Neue Wege müssen her, um sich im großen Pool der Arbeitgeber durchzusetzen – und von Anfang an ein gutes Gefühl beim Kandidaten zu erzeugen. Dazu beitragen kann der konsequente Einsatz von Neuromarketing im Recruiting. Aber wie hängen Recruiting und Neuromarketing zusammen und was haben sie mit der Personalarbeit zu tun?
Neuro-Recruiting: unterbewusste Mechanismen kennen und nutzen
Neuromarketing beschäftigt sich mit der Entscheidungsfindung des Konsumenten und was dabei im Gehirn geschieht. Im Fokus steht die bewusste und unbewusste Wahrnehmung der Marke, indem man unterbewusste und höchst emotionale Prozesse im Gehirn der Zielgruppe berücksichtigt und gezielt aktiviert.
Das funktioniert bei Käufern eines Produktes ebenso wie bei Bewerbern, die sich zwischen verschiedenen Arbeitgebern entscheiden sollen. Aber wie genau kann man durch Neuromarketing die unbewusste Handlungsentscheidung im menschlichen Gehirn beeinflussen, um diese positiv zu unterstützen?
Emotionen bestimmen Recruiting-Erfolg
Menschen sind durch und durch emotional. Zwar halten wir uns alle für enorm rationale Entscheider, schließlich haben wir ja auch immer gute Gründe für unsere Entscheidungen. Doch längst wurde wissenschaftlich bewiesen, dass wir uns völlig aus dem Bauch heraus entscheiden und unser Gehirn erst im Nachhinein eine rationale Entscheidung „erfindet“, um die emotionale Entscheidung vor uns selbst zu rechtfertigen.
Innerhalb von Sekundenbruchteilen trifft das Gehirn seine Entscheidung. In umfangreichen Experimenten fanden Wissenschaftler heraus, dass sich der Eindruck, diese Entscheidung selbst und rational zu treffen, erst einstellt, nachdem die Entscheidung schon erfolgt ist. 200 bis 350 Millisekunden liegen zwischen einer Handlung und der rationalen Entscheidung dazu.
Keine Weiterentwicklung seit 50.000 Jahren
Der erste Eindruck und das erste Bauchgefühl sowie die unverzüglich darauffolgende Entscheidung entstehen im limbischen System. Hierbei handelt sich um einen stammesgeschichtlich älteren Teil des Gehirns, der sich in den letzten 50.000 Jahren nahezu nicht weiterentwickelt hat. Das limbische System ist für die emotionale Verarbeitung von Impulsen verantwortlich und ist ausschlaggebend für das Bauchgefühl.
Das limbische System wird auch „mittleres Gehirn genannt“. Daneben gibt es zwei weitere Sektionen, so dass sich das Gehirn aus diesen Bereichen zusammensetzt:
- das neue Gehirn (Großhirn & Neokortex) ist dafür verantwortlich, schriftliche Informationen zu verarbeiten, zu kalkulieren, logisch zu denken und rational zu entscheiden.
- das mittlere Gehirn (Zwischenhirn), in dem das limbische System liegt, verarbeitet emotionale Impulse, Kindheits- und Verhaltensmuster, Erinnerungen und Glaubenssätze – und beeinflusst so unser Bauchgefühl.
- das Reptilien-Gehirn (Stammhirn) ist der älteste und primitivste Teil unseres Gehirns: Es ist verantwortlich für unsere Instinkte und Reflexe sowie für die Verarbeitung von Sinneseindrücken, kontrolliert unsere Aufmerksamkeit und prägt Teile unserer Entscheidungen.
Wichtig für Entscheidungen sind in erster Instanz das Reptiliengehirn, um Aufmerksamkeit zu erwecken, und das mittlere Gehirn, um unbewusst erste Entscheidungen zu treffen.
Jede Entscheidung kommt aus dem Bauch
Laut Erkenntnissen aus der Neurologie und Psychologie wird jeder Entscheidung zu über 90 Prozent emotional getroffen. Man gewinnt Menschen also hauptsächlich durch eine emotional geprägte Ansprache und indem man es ihnen leichtmacht, direkt aus dem Bauchgefühl heraus eine positive Entscheidung zu treffen.
Das Ziel ist es, eine stärkere positive Emotionalisierung zu erreichen und dadurch eine positive Entscheidung herbeizuführen. Das wiederum wirkt sich positiv auf die Erfolgsquoten aus, im Verkauf wie im Recruiting. Dieses Wissen bildet die Grundlage für einen einzigartigen Marketing-Ansatz. Doch wieso hängen ausgerechnet Neuromarketing und Personalarbeit so eng zusammen?
Auch Kandidaten sind nur Menschen
So wie ein Konsument eine Marke wahrnimmt, so nimmt auch ein Bewerber den potentiell neuen Arbeitgeber wahr. Innerhalb der Personalarbeit ist der Konsument also der Bewerber oder der Mitarbeiter. Die Marke ist das Unternehmen beziehungsweise der Arbeitgeber selbst.
Wie beim Produktkauf muss sich der Kandidat für das Unternehmen und den Arbeitgeber entscheiden. Die Entscheidung läuft auch hier emotional ab: Bevor der Bewerber rational ergründen kann, wieso er sich für oder gegen diesen Arbeitgeber entscheidet, hat er die Entscheidung unbewusst längst getroffen.
Emotionale Entscheidungen rational begründet
Ab dem ersten Kontakt weiß der Kandidat, ob er bei dem Unternehmen grundsätzlich ein gutes oder schlechtes Bauchgefühl hat – und sollte irgendetwas nicht passen, wird aufgrund dieses Bauchgefühls entschieden. Natürlich mit einer nachgeschobenen rationalen Begründung im Gepäck à la „Lieber nicht diesen Arbeitgeber, schließlich gibt es keinen Obstkorb“ oder „Hier kann ich bedenkenlos anfangen, schließlich ist auch die Anfahrt nicht so lang“.
Als Arbeitgeber oder Recruiter positive Emotionen beim Bewerber zu wecken ist daher der Schlüssel zum Erfolg. Entsprechend sollten wir auch zukünftig danach handeln und versuchen, vom ersten Kontakt ab ein gutes Gefühl hervorzurufen.
Emotionssysteme erleichtern Bewerber-Ansprache
Der Psychologe Hans-Georg Häusel identifizierte in mehrjähriger Forschungsarbeit drei Emotionssysteme in unserem Gehirn, die unsere Entscheidungen maßgeblich beeinflussen:
- Balance-System
- Stimulanz-System
- Dominanz-System
Alle drei Systeme sind bei jedem Menschen in unterschiedlichen Ausprägungen vorhanden. Daher reagiert auch jeder Bewerber anders auf diverse Stimuli in Stellenausschreibungen oder auf der Karriere-Seite.
Nach der Theorie dieser drei Emotionssysteme sollte man die unterschiedlichen Emotionstypen unterschiedlich ansprechen, um sie für das eigene Unternehmen zu begeistern und zu gewinnen:
Das Balance-System verkörpert Stabilität und Sicherheit und lässt nach Ruhe und Harmonie streben. Kandidatinnen und Kandidaten mit Balanceprägung bevorzugen hohe Sicherheit und lieben konstante Prozesse.
Das Stimulanz-System repräsentiert Spaß, Abwechslung, Neugier und das Streben nach Belohnung. Kandidatinnen und Kandidaten, die von diesem System geprägt sind, verspüren schnell Langeweile, wenn sich etwas nicht stetig ändert und weiterentwickelt.
Das Dominanz-System steht für Durchsetzung, Macht und Elite. Können diese Ziele erreicht werden, entstehen Siegesgefühle und Stolz. Menschen dieser Prägung wünschen sich Verantwortung und Entscheidungsgewalt.
Das Gehirn will profitieren
So wird ersichtlich, welche unterschiedlichen Motive und Werte bei zum Beispiel stimulanzgeprägten Bewerberinnen und Bewerbern angesprochen werden müssen, um eine bestimmte Stelle oder ein Unternehmen richtig zu bewerben und vom Start weg eine positive Entscheidung auszulösen.
Wenn es Ihnen dann gelingt, das mittlere Gehirn und das Reptilien-Gehirn des Kandidaten mit Ihrer Karriereseite, Ihrer Stellenanzeige oder Ihrem Social Media Content anzusprechen, haben Sie eine viel höhere Chance, diese für eine Stellenbewerbung zu motivieren.
Das Reptilien-Gehirn ist in erster Linie egoistisch. Es ist seit Urzeiten dafür verantwortlich, den Menschen zu schützen, und interessiert sich daher nicht für die Sorgen und Inputs von anderen. Schließlich kümmert sich das Reptilien-Gehirn um das Wohlergehen des Besitzers / der Besitzerin und möchte primär wissen, wie dieser von einer Anstellung in Ihrer Unternehmung profitieren kann.
3 Tipps für erfolgreiches Neuro-Recruiting
TIPP 1: Kommunizieren Sie auf der Karriereseite alle Vorteile für Ihre Kandidatinnen und Kandidaten:
- Hinweise auf Karrierechancen => Dominanz-System
- Job-Benefits => Balance-System
- Unternehmenskultur & Spaß => Stimulanz-System
- eine attraktive Bezahlung => Balance-System (Sicherheit)
- weitere Entwicklungsmöglichkeiten => Stimulanz-System
Diese Vorteile müssen für Kandidatinnen und Kandidaten schnell sicht- und erfassbar sein.
TIPP 2: Setzen Sie auf Emotionen anhand von Bildern, Videos und Storytelling
90 Prozent aller Informationen, die an das Gehirn übertragen werden, sind visueller Natur. Dies macht Bild- und Video-Inhalte zu besonders wertvollen Tools im Entscheidungsprozess eines Kandidaten / einer Kandidatin:
Der Sehnerv, der visuelle Reize übermittelt, ist direkt mit dem Reptilien-Gehirn verbunden. Und das Reptilien-Gehirn wiederum verarbeitet visuelle Informationen wesentlich schneller als beispielsweise schriftliche.
“Ein Bild sagt mehr als 1.000 Worte” ist also mehr als nur ein leerer Spruch: Intuitiv nehmen wir Bilder um ein Vielfaches schneller wahr als Text; und da sie direkt von unserem Reptilien-Gehirn verarbeitet werden, tragen die Impressionen ungefiltert zu unserer Entscheidungsfindung bei. Bis geschriebene Worte begriffen sind, haben Kandidatinnen / Kandidaten anhand des Bildes und des Gesamteindrucks ihre Entscheidung meist schon getroffen.
Videos sind sogar bis zu fünfmal effektiver als Text-Inhalte. Es ist daher empfehlenswert, Bild- und Videomaterial zu mischen, ohne die angebotenen Inhalte zu überladen.
Noch deutlicher werden Emotionen erzeugt, wenn wir Geschichten erzählen. „Storytelling“ bedeutet, Bilder im Kopf der Konsumenten, Zuhörer oder Bewerber zu erzeugen. Mit Symbolen, greifbaren Metaphern und konkreten Use Cases (zum Beispiel Referenzmitarbeitern, die von ihren Erfahrungen berichten) werden Bilder geschaffen, die sich tiefer im Gedächtnis verankern als reine Zahlen und Fakten.
Beispiel ohne Storytelling:
Einer der Benefits bei Happy Industries sind flexible Arbeitszeiten.
Beispiel mit Storytelling:
Hallo, ich bin Lars und arbeite bei Happy Industries. Wenn es meine Projekte zulassen, mache ich an sonnigen Tagen etwas früher Feierabend, hole meine Kinder von der Schule ab und kann mit ihnen ein paar Extra-Stunden am See verbringen. Entweder setze ich mich dann am Abend nochmal hin, oder ich hole die Arbeitszeit an einem extralangen Regentag nach. Diese flexiblen Arbeitszeiten würde ich nie wieder missen wollen.
TIPP 3: Schaffen Sie Kandidatinnen und Kandidaten unmittelbare Erfolgserlebnisse
Unser Gehirn schüttet das Glückshormon Dopamin aus, wenn wir eine Handlung erfolgreich abschließen. Um von diesem Mechanismus profitieren zu können, empfiehlt es sich, den Bewerbungsprozess simpel und kurz zu halten, um den Kandidaten baldmöglichst genau dieses kurze Glücksgefühl zu vermitteln.
In der Regel müssen Kandidaten viele Prozess-Schritte durchlaufen, bevor sie mit ihrer Wunschposition belohnt werden. Haben Kandidatinnen / Kandidaten aber bereits bei der Einreichung der Bewerbung ein erstes Erfolgserlebnis, wird das Unternehmen mit positiven Erinnerungen verknüpft. Entscheidet Kandidatinnen / Kandidaten nun zwischen mehreren ähnlichen Arbeitgebern, hat der mit den meisten positiven Verknüpfungen direkt die Nase vorn. Wichtig ist also ein intuitiver, schneller und erfolgreicher Bewerbungsprozess.
Grundsätzlich gilt: Je transparenter und vorhersehbarer der Prozess ist, umso positiver wird das Unternehmen wahrgenommen. Vor allem kann man mit einfachsten Mitteln für mehr Transparenz sorgen. Unterstützend wirkt es beispielsweise, wenn Sie beim Online-Bewerbungsformular eine ungefähre Zeitangabe machen, wie lange das Ausfüllen des Formulars dauert und was die Kandidatinnen und Kandidaten als nächstes erwartet – sowohl auf der nächsten Seite des Bewerbungsformulars als auch im Anschluss an den ersten Bewerbungsschritt.
Eine zusätzliche Möglichkeit, um für ein kleines Erfolgserlebnis zu sorgen: Bieten Sie Bewerbern nach Absenden der Unterlagen kostenlose E-Books oder eine Checkliste für die Vorbereitung auf das Vorstellungsgespräch an. So bleiben Sie den Kandidatinnen und Kandidaten in positiver Erinnerung und stechen gleichzeitig aus der Masse heraus.
Fazit: Mehr Mut zu emotionalem Recruiting!
Bewerber wollen umworben werden. Sie hören lieber Geschichten und reagieren auf einprägsame Bilder, verarbeiten alle Informationen emotional und entscheiden dann mit dem „Bauch“. Bewerber wollen stolz sein und das Gefühl haben, dass ihre Entscheidung richtig ist. Machen Sie es Ihrer Zielgruppe also besonders leicht, sich für Sie zu entscheiden!
Mehr Umsetzungstipps zu Neuro-Recruiting?
Hier finden Sie eine Checkliste Neuro-Recruiting.
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Tarek El-Dabbagh verantwortet als CHRO bei Infoniqa länderübergreifend alle Personalbelange. Seit 20 Jahren in der HR-Leitung aktiv, blickt El-Dabbagh auf Stationen im HR-Management bei Vivatis, als Partner bei Iventa, als Director Human Resource Management bei Silhouette International sowie als Director Human Resources bei der Pappas Gruppe.