Indische MINT-Fachkräfte drängen ins Ausland. Deutsche Unternehmen können davon profitieren, meint Labour Economist Philipp Karl Seegers. Voraussetzungen: Hürden abbauen, die Personalauswahl fairer und objektiver machen – und englische Stellenanzeigen schalten.
Fachkräfte sind essenziell für das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit einer Gesellschaft. Besonders elementar für Innovation und Entwicklung sind dabei die Bereiche Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik – kurz MINT. Die Beschäftigungsprognosen des U.S. Bureau of Labor Statistics zeigen, dass dieser Bereich bis 2029 voraussichtlich um 8 Prozent wachsen wird, verglichen mit knapp 4 Prozent bei anderen Berufen. Auch in Deutschland können wichtige Transformationen wie die Energiewende nur gelingen, wenn auf dem Arbeitsmarkt ausreichend Fachkräfte aus dem MINT-Bereich zur Verfügung stehen.
Der MINT-Frühjahresreport 2022, veröffentlich vom Institut der deutschen Wirtschaft, zeigt allerdings, dass es allein im April dieses Jahres an über 320.000 MINT-Arbeitskräften in Deutschland mangelte. Der mit 28 Prozent sehr niedrige Frauenanteil ist dabei eine gesellschaftliche Herausforderung für sich, soll hier aber nicht unerwähnt bleiben.
Laut des Gutachtens gibt es die größten Engpässe in den Energie- und Elektrobereichen mit mehr als 80.000 und im IT-Bereich mit mehr als 60.000 offenen Stellen. So erwarten 63 Prozent aller Großunternehmen in Deutschland einen steigenden Bedarf an IT-Experten. Bei Ingenieuren liegt dieser Wert bei 43 Prozent. Dieses Wachstum im Bereich der MINT-Arbeitsplätze trifft auf eine demographische Entwicklung, die zu einer Abnahme an Arbeitskräften führen wird. Bis 2030 könnten rund drei Millionen Arbeitskräfte fehlen – auf diese Einschätzung kommen unabhängig voneinander das Institut der deutschen Wirtschaft und die Boston Consulting Group.
MINT-Fachkräfte auf Jobsuche: Nicht überall herrscht Fachkräfte-Mangel
Ein wichtiger Aspekt bei der Lösung dieses Fachkräftemangels in Deutschland ist mehr Zuwanderung. In vielen Regionen im Süden und Osten Europas suchen weiterhin Menschen nach Arbeit. Während Migration aus anderen Teilen Europas legal gesehen einfach ist, wurden viele Potenziale in der letzten Dekade bereits genutzt. Darüber hinaus stellt diese Abwanderung andere europäische Länder oft vor eigene Herausforderungen. Das muss aber nicht immer der Fall sein und die Forschung zu den Effekten von Abwanderung – wertend oft als Brain-Drain bezeichnet – hat in den letzten Jahren durchaus gezeigt, dass in bestimmten Situationen auch die Herkunftsländer profitieren können.
Ein solches Beispiel ist Indien. Mit 1,4 Milliarden Menschen und einem extremen Wachstum im Bereich der Hochschulbildung leidet Indien an Massenarbeitslosigkeit unter Fachkräften, vor allem im sehr beliebten MINT-Bereich. Seit 2000 ist die Anzahl der Studierenden in Indien von weniger als 10 Millionen auf über 40 Millionen gestiegen. Auch hier soll nicht unerwähnt bleiben, dass laut United Nations Women 43 Prozent der indischen Studierenden im MINT-Bereich weiblich sind.
In Anbetracht des enormen Wachstums ist der indische Arbeitsmarkt allerdings gar nicht in der Lage, die MINT-Fachkräfte aufzunehmen. Wer nach dem Studium einen Job findet, arbeitet oft in einem anderen Bereich und kann die Kenntnisse aus dem MINT-Studium nicht nutzen. Aus diesen Gründen fokussieren sich viele Talente aus Indien bei ihrer beruflichen Perspektive auf das Ausland.
Transparenz und Vergleichbarkeit von Bildungsergebnissen
Viele deutsche Unternehmen werden entsprechend – je nach Kanal – mit einer Vielzahl ausländischer, tatsächlich oft indischer, Bewerbungen konfrontiert. Bei englischer Stellenausschreibung erhalten manche unserer Kunden rund 25 Prozent aller Bewerbungen von indischen Fachkräften. Man müsste meinen, dass dies eine gute Möglichkeit sein sollte, den Bedarf an MINT-Fachkräften in Deutschland auszugleichen, doch in der Realität kommt es nur selten zur Einstellung.
Kulturelle und sprachliche Hürden, die Fremdheit von Lebensläufen und fehlendes Wissen um die rechtlichen Möglichkeiten sind mögliche Gründe und die Bewerbungen werden, dem Mangel zu trotz, meist recht schnell abgelehnt. Gerade Personen ohne deutsche Bildungs- oder Arbeitsbiografie haben kaum Chancen, weil ihre Leistungen nicht eingeordnet werden können.
Daher ist die weltweite Transparenz und Vergleichbarkeit von Bildungsergebnissen ein wichtiger Bestandteil für eine erfolgreiche Auswahl von Bewerbungen anhand von Lebensläufen. Denn entscheidende Informationen, wie zum Beispiel die Qualität ausländischer Bildungseinrichtungen oder die Notengebung sind deutschen Personalverantwortlichen nicht bekannt. Bewerbende von hoch angesehenen und sehr selektiven Hochschulen aus dem Ausland sollten für deutsche Unternehmen leicht identifizierbar sein.
HR in Deutschland muss globaler denken
Gerade mit Blick auf ausländische Bewerbende ist eine Objektivierung zwingend notwendig, um diskriminierende Auswahlentscheidungen zu verhindern. Algorithmen eröffnen die Chance, die Personalauswahl an dieser Stelle objektiver zu machen, ohne zusätzlichen Aufwand bei der Auswahl zu schaffen. Dabei ist ein Punkt entscheidend: Es werden faire Algorithmen benötigt, die den Arbeitserfolg voraussagen, aber Diskriminierung nicht fortschreiben.
Dafür sollten Algorithmen nicht anhand vergangener Entscheidungen trainiert werden, sondern eher Kontextinformationen ergänzen, die bessere Entscheidungen durch Menschen ermöglichen. Beides, Fairness und die prognostische Qualität, ist Voraussetzung dafür, dass Unternehmen und Bewerbende auf Technologie vertrauen und von ihr profitieren können.
Bereits heute sind 20 Prozent der im Tätigkeitsfeld Forschung und Entwicklung erwerbstätigen MINT-Fachkräfte zugewandert. Das zeigt das Potential internationaler Talente und die grundsätzliche Integrationsfähigkeit des deutschen Arbeitsmarktes. Doch hinsichtlich des in den kommenden Jahren zunehmenden MINT-Fachkräftemangels benötigt Deutschland noch mehr Zuwanderung. Langfristig werden wir über das Suchen von und Werben um Fachkräfte im Ausland nicht herumkommen. Schon heute müssen wir die Weichen hierfür stellen.
HR sollte Stellen zunehmend global und auf Englisch verfassen und die Organisation auf internationale Mitarbeitende vorbereiten. Bei der Auswahl müssen wir Wege finden, uns fair und objektiv mit den eingehenden Bewerbungen zu beschäftigten, ohne manuell aufwändige Prozesse für HR zu schaffen.
Es gibt keine grundsätzlichen Unterschiede in der Leistungsfähigkeit zwischen inländischen und ausländischen Bewerbenden. Sehr wohl gibt es Arbeitskontexte, in denen es ausländische Bewerbende schwerer haben und es gibt Personalauswahl, die dies antizipiert. Ökonomisch gesehen ist das sicherlich keine gute Strategie. Und fair ist es auch nicht.
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Dr. Philipp Karl Seegers beschäftigt sich als „Labour Economist" mit dem Übergang zwischen Bildung und Arbeitsmarkt. Zusammen mit Dr. Jan Bergerhoff und Dr. Max Hoyer hat Seegers das HR-Tech Unternehmen candidate select GmbH (CASE) gegründet, welches große Datensätze und wissenschaftliche Methoden nutzt, um Bildungsabschlüsse vergleichbar zu machen. Philipp ist Projektleiter des durch das Land NRW und die EU geförderten Projektes FAIR („Fair Artificial Intelligence Recruiting“). Darüber hinaus forscht Philipp als Research Fellow der Maastricht University und als Initiator der Studienreihe „Fachkraft 2030“ an Fragestellungen im Bereich Bildungsökonomie, psychologische Diagnostik und Arbeitsmarkt.