In einem Bewerbermarkt kann die Führungskultur bei Top-Kräften den Ausschlag geben. Einfach gesagt, anspruchsvoll in der Praxis. Harald Smolak, Partner & HR-Experte bei Atreus, erläutert, welche Anforderungen Leadership 2022+ an die Unternehmen stellt.
In einem Bewerbermarkt sind Talente in einer weitaus besseren Position als Firmen, die händeringend möglichst schnell wichtige Positionen ihrer Wertschöpfungsstufen besetzen müssen. Denn sehr gute Fachkräfte haben heute eine große Auswahl interessanter Positionen. Unternehmen mit gutem Image, Industrieführer und namhafte Dienstleister sind in Kategorien der Arbeitsmarktattraktivität vergleichbar. Was sich dennoch unterscheidet, ist die Führungskultur. Hier können erfolgsverwöhnte Unternehmen sich heute und zukünftig deutlich differenzieren.
Warum ist Leadership so wichtig geworden?
Zwei maßgebliche Veränderungen haben den Wandel von Führung maßgeblich verändert. Die Digitalisierung und die Coronapandemie stellten die Anforderungen moderner Führung vor sehr großen Herausforderungen. Klare Ziele, die ideal durch SMARTe Ziele definiert und vereinbart werden, sind in Zeiten immer schnellerer Zyklen auf Quartalsebene festzulegen. Neue Arbeitsmethoden wie SCRUM oder OKR verfolgen Teamziele, die sich in Sprints oder Key Results in kurzen Zyklen auf ein Team von Spezialisten fokussieren.
Doch Trainings in diesen Methodiken machen aus den Teilnehmern noch lange keine Führungspersönlichkeiten. Zertifizierungen, egal in welcher Disziplin, schaffen Wissende, aber noch keine Profis, die aus vielen Erfahrungen das Know-how aus der Praxis zur Kompetenz entwickeln konnten.
Welche Faktoren sind durch diese gesellschaftlichen Veränderungen in den Vordergrund getreten?
Der Mangel an Fachkräften hat die Abhängigkeit zwischen Mitarbeitern und Unternehmen gedreht. Während sich früher Bewerber für interessante Aufgaben in Unternehmen geradezu andienen mussten, sind heute Organisationen gefordert, ihre Attraktivität als Arbeitgeber unter Beweis zu stellen. Social Media bzw. Bewertungsplattformen machen eine arbeitnehmerzentrierte Unternehmenskultur transparent. Jeder kann sich vorab informieren, wie sich ein Unternehmen aus Sicht der Mitarbeiter darstellt. So werden Recruiter zu Markenbotschaftern, die ihr Unternehmen durch professionelle Arbeit repräsentieren.
Heute gilt es nicht nur, den Bewerberprozess so effektiv wie möglich zu gestalten, sondern die interessanten Bewerber für das Unternehmen zu begeistern. Ist dies gelungen, müssen Führungskräfte aus den Fachabteilungen zeigen, dass sie moderne Führung auch vorleben können. So wird das Interview des Kandidaten auch zum Interview der Führungskraft. Also ein Gespräch auf Augenhöhe zwischen zukünftigen Mitarbeitern und Vorgesetzten. Denn Authentizität beruht auf Gegenseitigkeit. Führungskräfte sollten sich deshalb auf dieses Gespräch sehr gut vorbereiten.
Führung bedeutet führen und gleichzeitig führen lassen. Beides ist notwendig, um eine starke Partnerschaft hebeln zu können. Eine aktuelle Studie der Firma Atreus, bei der 1.032 Spitzenführungskräfte befragt wurden, ergab, dass bestimmte Veränderungstreiber neben den fachlichen Voraussetzungen den Ausschlag für eine zukünftige Zusammenarbeit geben.
So ist bei den Studienteilnehmern die Etablierung eines hybriden Arbeitszeitmodells in Kombination mit offener Kommunikation, regelmäßigen Workshops und Events sowie neue Boni und Beteiligungssysteme von sehr großer Bedeutung. Hinsichtlich der Mitarbeiterbindung, die genauso wichtig wie die Akquise neuer Mitarbeiter ist, braucht es eine nachhaltige Unternehmenskultur, die durch die Digitalisierung der Prozesse und neue Geschäftsmodelle entsprechend anzupassen ist. Hinzu kommen die Herausforderungen durch den Klimawandel – externe Faktoren, die neben internen Veränderungen gleichzeitig zu berücksichtigen sind.
Wofür steht eine Firma? Welchen Beitrag leistet sie für die Gesellschaft, was macht das Unternehmen aus und wie wird es durch die Führungskräfte und seinen Mitarbeitern repräsentiert?
(Auszug aus der Leadership 2022+ Studie v. Atreus 2022)
Wie bereiten sich Führungskräfte auf die neuen Leadership-Veränderungen vor?
Die größte Umstellung für Führungskräfte ist die Tatsache, dass Leadership mehr Zeit kostet. Leadership gelingt nicht als Beiwerk neben den ständigen Herausforderungen durch Ergebnisrealisierung, Forecasts oder auch Präsentationen vor Stakeholdern, sondern fordert den Kontakt zu den Mitarbeitern, zum Team und zu Peers ein. Durch hybride Arbeitsmodelle werden Video-Meetings zum „New Normal“, ersetzten aber nicht die F2F-Meetings.
Erspart man sich mit digitaler Präsenz diverse Anreisezeiten, sollte diese durch mehr Präsenz gegenüber den Mitarbeitern investiert werden. Es gilt, eine gesunde Balance zwischen Zielerreichung im Sinne von Controlling und Kontakt zu Mitarbeitern zu finden, diesen mehr Raum zu geben, gegenseitiges Verständnis aufzubauen, Ideen zu teilen und sie in ihrem Entwicklungsprozess besser zu verstehen bzw. zu unterstützen.
Da Fachkräfte immer schwieriger am Markt zu bekommen sind, braucht es mehr Wissen über die eigenen Mitarbeiter, diese in ihren Talenten zu erkennen und zu fördern. Gleichzeitig erfordert es Vertrauen zwischen Führungskraft und Mitarbeiter. Beides ist ein Prozess, der sich über die Zeit aufbaut. Transformationale Führung ist das Gebot der Stunde. Führen als Vorbild, leben was man sagt – und das auch in der Praxis. Zu den Verhaltensweisen stehen, sich nicht zu schade sein, mal Fehler zuzugeben. Den Mut zu haben, Entscheidungen im Laufe eines Umsetzungsprozesses im Sinne neuer Erkenntnisse ändern zu können. Im Übrigen auch in der Einschätzung von Mitarbeitern und umgekehrt.
Leadership lässt sich nicht durch KI ersetzen. Leadership ist die Kunst, starke Entscheidungen treffen zu können, um Mitarbeitern Orientierung zu geben, mit dem Bewusstsein, dass dies nicht immer gelingt. Der Weg ist das Ziel. Man kommt nie an.
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Harald Smolak arbeitet als Partner & Leiter der Solution Group Human Capital Management bei der Interim Management Beratung Atreus aus München. Sein Fokus liegt auf den Bereichen Mindful Leadership, Coaching von Top-Führungskräften, Konfliktmanagement, Organisations- und Teamentwicklung sowie Unternehmenstransformationen. Foto: Caroline Floritz