Psychologische Sicherheit fördert nicht nur Innovation und Produktivität, sondern stärkt auch das Engagement und die Resilienz der Mitarbeitenden. Ein offenes und unterstützendes Klima, in dem Fehler erlaubt sind und Risiken gemeinsam getragen werden, bildet den Schlüssel zu einer gesunden Teamkultur. Sarah Lange, Managerin People & Organizational Development bei MHP, zeigt, wie Unternehmen diesen Wandel aktiv gestalten können. Dies ist der erste Beitrag ihrer neuen HR-Kolumne im HR JOURNAL.
Vier von fünf Arbeitnehmerinnen / Arbeitnehmern in Deutschland spüren die Folgen von Stress am Arbeitsplatz – aber niemand spricht gerne darüber. Denn: Psychische Erkrankungen sind im Arbeitsalltag noch immer ein Tabuthema. Zu groß ist die Sorge vor möglichen Folgen. Das ist auch deswegen so bedenklich, weil die Anzahl der Menschen, die einen Burnout fürchten, zunimmt. Umfragen zufolge sorgen sich 61 Prozent der Bundesbürger, an Überlastung zu erkranken; als Hauptgründe gelten Überstunden und ständiger Termindruck.
Sich Kolleginnen und Kollegen oder der Führungskraft anzuvertrauen, erfordert nicht nur Mut, sondern auch echte eigene Öffnung, Reflexion und professionelle Hilfe. Noch besser ist natürlich, wenn es gar nicht erst zu ungesunden Belastungen kommt. Stichwort: Prävention. Hier sind Arbeitgeber gefragt: Sie sollten das Tabu nicht nur aufbrechen und das geringe Wissen um das Thema Psyche erweitern, sondern auch für ein Arbeitsumfeld sorgen, in dem sich Mitarbeitende wohlfühlen. Führungskräfte können durch einen achtsamen Führungsstil für mehr Offenheit, Empathie und Wertschätzung sorgen und somit einen entscheidenden Unterschied machen.
Idealbild der sorgenfreien Organisation
In diesem Zusammenhang rückt das Konzept der psychologischen Sicherheit in den Fokus. Der Begriff ist während der Pandemie nahezu ein Buzzword geworden. Im ursprünglichen Sinne lässt er sich als eine Grundlage für mentale Gesundheit am Arbeitsplatz nutzen. Denn, so meine Erfahrung: Wer von einer Kultur umgeben ist, in der Menschen unbesorgt sprechen und handeln dürfen, fühlt sich sicherer und somit widerstandsfähiger.
Eingeführt wurde der Begriff der psychologischen Sicherheit bereits in den 1990er Jahren durch die Harvard-Professorin Amy Edmondson. Sie untersuchte entscheidende Faktoren für den Erfolg von Teams. Es kam heraus, dass es nicht um die Kompetenz der Einzelnen, die Zusammensetzung des Teams, die Rollenverteilung oder das Gehalt geht, sondern darum, wie sicher sich die Teammitglieder zusammen fühlen.
Mitglieder, die davon überzeugt sind, in einem Umfeld zu arbeiten, das vor zwischenmenschlichen Risiken wie Verurteilung oder Ausgrenzung sicher ist, performen besser. Sie trauen sich, Informationen weiterzugeben, Ideen einzubringen, ihre Meinung zu teilen, zu hinterfragen, zu kritisieren, zu widersprechen und Fehler zuzugeben. Und zwar auch gegenüber Menschen, die in der Hierarchie über ihnen stehen. Dadurch wachsen sie. Voraussetzungen für psychologische Sicherheit sind, dass es kein ausgeprägtes autoritäres Denken gibt und keine negativen Konsequenzen drohen, wenn sich Menschen beteiligen.
Teamkultur: Sicher ist nicht gleich sicher
Es geht also um ein unterstützendes Klima, in dem sich Teams offen und gleichberechtigt austauschen können. Wie stark die psychologische Sicherheit im Team ausgeprägt ist, finden sie durch aufmerksames Beobachten schnell heraus: Wie ist der Redeanteil im Teammeeting verteilt? Werden unterschiedliche Perspektiven eingebracht und kontrovers diskutiert? Wird aktiv (kritisches) Feedback eingeholt und offen über Fehler gesprochen? Trauen sich Teammitglieder, um Hilfe zu bitten? Wird Arbeit als Lernerfahrung definiert?
Doch es geht noch weiter. Selbst in einer Organisation mit einer sehr starken und positiven Kultur kann die psychologische Sicherheit von Team zu Team deutlich variieren. Das hat Google 2012 in der internen Aristotle-Studie herausgefunden. Das Unternehmen stellte die psychologische Sicherheit als den Faktor heraus, der Leistungsunterschiede zwischen Teams am besten erklären konnte.
Mitarbeitende müssen demnach das Gefühl haben, zu einem Team zu gehören, das Risiken von einzelnen Mitgliedern mitträgt: „It is safe to take a risk on this team“. Damit beschreibt das Konzept eine Gruppennorm, die über den Einfluss einer vertrauensvollen Umgebung auf den Teamerfolg hinausgeht.
Coachings und Trainings on the job
Die positiven Auswirkungen psychologischer Sicherheit sollten Unternehmen zur Stärkung der mentalen Gesundheit ihrer Beschäftigten nutzen. Die Führungskraft in ihrer Vorbildfunktion hat dabei eine Schlüsselrolle: Ihr Verhalten beeinflusst die wahrgenommene psychologische Sicherheit sehr, da sich Teammitglieder unter anderem an diesem Verhalten orientieren. Offen über Erschöpfung und Verunsicherung reden zu können, kann helfen, psychische Belastungen frühzeitig zu erkennen, angemessen mit ihnen umzugehen, sie zu reduzieren und so psychisch im Gleichgewicht zu bleiben. Ohne dass es einer Krankschreibung bedarf.
Um mit diesem Ansatz vertraut zu werden, empfehlen sich ganzheitliche achtsamkeitsbasierte Führungskräftetrainings, in denen Strategien zur Stressreduktion im Alltag und einem achtsamen Umgang mit sich selbst und anderen erlernt werden. Vor-Ort-Trainings verbessern – anders als reine Trainings per App – signifikant das Führungsverhalten und senken das Stressniveau, was sich sehr positiv auf Mitarbeitende auswirkt. Um die Rolle zu festigen, sollten regelmäßig externe Coaches und Supervisor:innen hinzugezogen werden. Gerade durch die Supervision können sich Führungskräfte selbst reflektieren und das Verständnis für ihr Verhalten erweitern.
Daneben eignen sich spezielle Schulungsprogramme für alle, um einen gesunden Umgang mit permanenter Veränderung sowie das Selbstwirksamkeitsempfinden zu fördern. Das Fundament solcher Maßnahmen ist häufig die Arbeit mit Werten und die Ausrichtung auf die Sinnhaftigkeit der Veränderung, den Einfluss und Wirkungskreis jeder einzelnen Person und die Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls durch die gemeinsame Erarbeitung von Transformationsvisionen.
Was ihre Werte und Ziele sind und was sie brauchen, um die Ziele zu erreichen, können Organisationen in Transformationscoachings herausfinden. Die erarbeitete Vision wird Top-down von der Geschäftsleitung auf die unterschiedlichen Führungsebenen und dann auf die einzelnen Teams ausgerollt. So werden bei der gemeinsamen Arbeit an Zielbildern und Transformationsstrategien alle einbezogen. Auch hier sind das Kompetenzgefühl im Team, ein achtsamer Umgang miteinander durch eine entsprechende Kommunikation, ein wohlwollendes Mindset und die psychologische Sicherheit wesentlich.
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Dr. Sarah Lange ist seit 2019 bei MHP im Cluster People & Organization und im Team Organizational Transformation tätig. In ihrer Rolle als Portfolioentwicklerin arbeitet sie aktuell an einem Beratungsansatz zum Thema mentale Gesundheit in Unternehmen und Organisationen. Vor ihrer Tätigkeit bei MHP hat Sarah Lange am Lehrstuhl für Personalentwicklung und Change Management der TU Dortmund zu wirtschaftspsychologischen Fragestellungen geforscht und gelehrt.