Psychische Belastungen am Arbeitsplatz nehmen zu – doch viele Unternehmen verlassen sich bei der Ursachenforschung noch immer auf ihr Bauchgefühl. Entsprechend wenig effektiv sind die Maßnahmen. Eine ganzheitliche Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz setzt dagegen auf datengestützte Analysen und gezielte Maßnahmen. Sarah Lange, Managerin People & Organizational Development bei MHP, zeigt, wie Unternehmen systematisch vorgehen – und damit sowohl das Wohlbefinden der Mitarbeitenden als auch den Unternehmenserfolg steigern.
Wie gelingt es, dass sich Menschen an ihrem Arbeitsplatz wohlfühlen? Mit dieser Frage beschäftigen sich Unternehmen, speziell die Personalabteilungen, seit vielen Jahren. Doch liest man die Ergebnisse aktueller Studien, scheinen noch nicht alle Antworten gefunden zu sein. Anders lässt es sich nicht erklären, dass konkret im Mittelstand kaum Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung umgesetzt werden. Nur jedes dritte Unternehmen tut etwas für die mentale Gesundheit seiner Mitarbeitenden.
Dazu gehören Führungskräfteschulungen, Mentoringprogramme und die Ausbildung kollegialer Vertrauenspersonen, um Beschäftigte für das Thema zu sensibilisieren. Bewusstsein zu schaffen, ist ein erster wichtiger Schritt: Denn zwischen einer hohen Gesundheitskompetenz im Unternehmen und dem Wohlbefinden der Beschäftigten besteht nachweislich ein deutlicher Zusammenhang. Sind Beschäftigte gut vom Arbeitgeber über gesunderhaltende Faktoren und Risiken im Rahmen der eigenen Tätigkeit informiert, verhalten sie sich gesundheitsbewusst.
Die Mehrheit der Unternehmen bietet flexible Arbeitszeiten und die Möglichkeit zur Remote-Arbeit an – was nach meinem Verständnis den Arbeitsplatz attraktiver macht, aber keine umfassende Maßnahme für mentale Gesundheit darstellt. Auch digitale Tools oder Online-Plattformen zur Information und Selbsthilfe, die einen niedrigschwelligen Einstieg bieten, sind in vielen Unternehmen kein Thema. Zudem kommt lediglich ein Drittel der Gefährdungsbeurteilung nach. Dabei sind Arbeitgeber gesetzlich dazu verpflichtet, Arbeit zu beurteilen, zu gestalten und neben der physischen ausdrücklich auch die psychische Belastung zu ermitteln.
Das Paradoxe: Geschäftsführung, Management und Führung nehmen die steigende psychische Belastung unter Mitarbeitenden und durchaus auch bei sich selbst wahr. Sie sind sich zudem den Auswirkungen auf die Motivation, die Produktivität, die Mitarbeiterbindung und den Unternehmenserfolg bewusst. Warum treffen viele Unternehmen dennoch keine Gegenmaßnahmen oder schöpfen das Potenzial aus?
Gesundheitsförderung bietet Return-on-Invest
Eine Mutmaßung ist: Viele Unternehmen machen das Thema nicht messbar, sondern folgen dem Bauchgefühl. Als Anhaltspunkte werden in der Regel (lange) Fehlzeiten und Krankheitskosten herangezogen, mehr nicht. Dabei dienen Gesundheitsförderung und Prävention nicht nur dazu, Krankheiten zu vermeiden, sondern einen klaren Return-on-Invest zu schaffen. Eine höhere Arbeitszufriedenheit, ein geringerer Krankenstand und niedrigere Krankheitskosten sind bares Geld.

In der wissenschaftlichen Literatur lässt sich eine eindeutige Evidenz hinsichtlich des Zusammenhangs von Lebensstilfaktoren, Erkrankungen und medizinischen Kosten finden. Gleichzeitig belegen verschiedene Studien, dass Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung sowohl positive Gesundheitseffekte als auch betriebswirtschaftliche Effekte bewirken. Für jeden investierten Dollar können Unternehmen durchschnittlich 2,7 Dollar durch reduzierte Krankheitskosten aufsparen – wenn das nicht Grund genug ist, in betriebliche Gesundheitsförderung zu investieren.
Ganzheitliche Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz: Zahlen, Daten, Fakten schaffen
Um dem allgemeinen Trend langer, schwerer Ausfälle wegen psychischer Erkrankungen entgegenzuwirken, sollten Unternehmen auf ganzheitliche Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz setzen. Das bedeutet: Nicht nur die Individualebene betrachten und einzelne Impulse setzen, sondern Strategien entwickeln, die gezielter und auf Abteilungsebene wirken. Die Basis bilden, wie so oft, Daten. Über eine Erhebung per Analysesoftware lassen sich systematisch Informationen unter allen Beschäftigten zu Handlungsfeldern wie die eigene Person, mit dem Job verbundene Aufgaben, das organisationale Umfeld, räumliche und zeitliche Faktoren, Team und Führung, kulturelle Bedingungen und Gesundheitsbeschwerden sammeln. Hier werden jeweils die Arbeitsbedingungen unter die Lupe genommen.
Was die eigene Person angeht, sind das Treiber wie Rollenverständnis, Qualifikation, Entwicklungschancen und Arbeitsplatzsicherheit. Im Feld Organisation geht es beispielsweise um Arbeitsintensität, Überstunden, Prozesse und Arbeitsunterbrechungen. Regelmäßig unbezahlte Überstunden gehören für knapp ein Drittel der Beschäftigten zum Alltag. Außerdem berichten sie häufig über Arbeitsunterbrechungen und Multitasking. (1)

All das belastet die Psyche. Dies in der eigenen Organisation aufzudecken, ist wichtig, um Stress entgegenzuwirken und Produktivität, Motivation sowie Leistung und Bindung zu steigern. Weitere Faktoren, die es zu untersuchen gilt, sind Betriebsklima, Führungsverhalten und Fehlerkultur – sie führen am häufigsten zu krankheitsbedingten Ausfällen.
Im Idealfall ermöglicht die Software die Feinanalyse einzelner Teams und Standorte, und gibt Mittelwerte an, die mit Vergleichsgruppen aus anderen Unternehmen ins Verhältnis gesetzt werden können. Laut DearEmployee kann der Einsatz von solchen softwarebasierten Umfragen zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung das Risiko für Burnout durch den Arbeitsplatz bereits im ersten Jahr um durchschnittlich 31,5 Prozent reduzieren. Zudem können die Risikofaktoren am Arbeitsplatz insgesamt um die Hälfte reduziert werden.
Zu allen Arbeitsbedingungen das passende Angebot
Auf Basis der Analyse sollten die richtigen Beratungsformate und -inhalte implementiert werden. Unterstützung können Anbieter aus dem betrieblichen Gesundheitsmanagement und dem Bereich Arbeitsschutz und -medizin bieten, auch die Einführung von (Mental) Health Apps stellt eine Option dar. Systematischer und nachhaltiger wirkt der Erfahrung nach jedoch eine Kombination aus intelligenter Software, die in der Lage ist, passende Empfehlungen zu geben, und einer auf die Organisationsentwicklung spezialisierten Beratung, die die empfohlenen Maßnahmen gemeinsam mit dem Unternehmen umsetzt und Skalierungen erzielen kann.

Die Maßnahmen reichen je nach Handlungsfeld von Einzelcoachings über Teamworkshops und Führungskräftetrainings, Kulturentwicklungsprogrammen bis hin zu einer ganzheitlichen Organisations- und Transformationsberatung. In Schulungen, Workshops und Coachings erlernen Beschäftigte beispielsweise Methoden und Ansätze kennen, die leicht im Arbeitsalltag umgesetzt werden können: Zum Beispiel klare Kommunikationsrichtlinien wie feste Offline-Zeiten, um die ständige Erreichbarkeit zu verringern, die „stille Stunde“, um Räume für konzentriertes Arbeiten zu schaffen, Feedback-Runden, um den Teamzusammenhalt zu stärken und Wertschätzung auszudrücken, sowie Werte-Dialoge, um Unternehmenswerte zu reflektieren und zu diskutieren.
Des Weiteren hilft es, die Arbeitsbedingungen anzupassen, etwa ein ausgewogenes Verhältnis von Online-Meetings, Home Office, flexiblen Arbeitszeiten, Gleitzeitmodellen oder Teilzeitarbeit zu ermöglichen. Wichtig ist, von Beginn an die Geschäftsführung sowie Stakeholder wie die HR-Abteilung, Fach- und Führungskräfte einzubinden, die Erlerntes dann weiter in die Abteilungen und Teams tragen. Um sicherzustellen, dass die Maßnahmen im Unternehmen effektiv sind, ist eine regelmäßige Bewertung über Feedbacks, Umfragen und Analyse von Kennzahlen essenziell.
(1) Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit im Februar 2024
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Dr. Sarah Lange ist seit 2019 bei MHP im Cluster People & Organization und im Team Organizational Transformation tätig. In ihrer Rolle als Portfolioentwicklerin arbeitet sie aktuell an einem Beratungsansatz zum Thema mentale Gesundheit in Unternehmen und Organisationen. Vor ihrer Tätigkeit bei MHP hat Sarah Lange am Lehrstuhl für Personalentwicklung und Change Management der TU Dortmund zu wirtschaftspsychologischen Fragestellungen geforscht und gelehrt.