ADHS im Job: Herausforderung oder Geheimwaffe?

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Vier Faktoren beeinflussen, wie Mitarbeitende mit ADHS im Job ihre Stärken effektiv einsetzen können. Professorin Kerstin Alfes von der ESCP Business School, Campus Berlin, zeigt, unter welchen Bedingungen sie Höchstleistungen im Unternehmen erbringen können.

„Während meiner ganzen Schulzeit wurde mir gesagt, dass ich in nichts gut sei, dass ich zuhören müsse, dass ich aufhören müsse zu reden. Ich hatte überall in der Schule Misserfolge. Das baut dein Selbstwertgefühl nicht gerade auf, wenn man so will. Ich wurde auch von sozialen Gruppen ausgeschlossen […] Erfolgreich im Berufsleben zu sein, gibt mir Sinn, Anerkennung und Wertschätzung. Dies ermöglicht es mir, meine Probleme mit dem Selbstwertgefühl und meiner ADHS-Identität auszugleichen. Ich fühle mich nützlich. Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass ich ein Recht habe, irgendwo zu existieren.“ (Mitarbeiterin mit ADHS)

Organisationen zeigen ein zunehmendes Interesse daran, neurodiverse Mitarbeitende – das heißt Mitarbeitende mit Aufmerksamkeitsdefizit‑/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Autismus oder Tourette-Syndrom – einzustellen und beschäftigen sich häufig mit der Frage, wie diese bestmöglich im Unternehmen eingesetzt werden können. So hat beispielweise SAP bereits vor zehn Jahren das Programm „Autismus at Work“ ins Leben gerufen. Unternehmen wie Siemens oder Deichmann folgten.

Die positive Einstellung gegenüber neurodiversen Mitarbeitenden ist auch darin begründet, dass neurologische Unterschiede heutzutage weniger als Störung oder krankhafte Ausprägung, sondern vielmehr als natürliche Variation des menschlichen Gehirns wahrgenommen werden. Dieser Beitrag fokussiert sich auf Mitarbeitende mit ADHS und beleuchtet, welchen Herausforderungen diese in ihrer täglichen Arbeit gegenüberstehen und unter welchen Bedingungen sie Höchstleistungen im Unternehmen bringen können.

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Was ist ADHS und wie wirkt es am Arbeitsplatz

ADHS bezeichnet eine Störung in der Entwicklung des Gehirns, die nach Expertenschätzungen ca. fünf Prozent aller Menschen weltweit betrifft. Auch wenn die Symptome und ihre Ausprägungen von Individuum zu Individuum verschieden sind, gehen Wissenschaftler davon aus, dass ADHS eine biologische Grundlage hat. Bei Menschen mit ADHS ist das Gleichgewicht der Botenstoffe Noradrenalin und Dopamin verändert, was zu Unaufmerksamkeit, eingeschränkter Selbstregulation, Impulsivität und Hyperaktivität führen kann; Verhaltensaspekte, unter denen Menschen mit ADHS bereits in der Kindheit und Jugend leiden.

Diese Symptome wirken sich – wie die Grafik verdeutlicht – auch am Arbeitsplatz negativ aus, da Mitarbeitende mit ADHS oft Schwierigkeiten haben, neurotypischen Verhaltenserwartungen gerecht zu werden und sich an standardisierte HR-Prozesse anzupassen. Menschen mit ADHS arbeiten beispielsweise gerne an herausfordernden Tätigkeiten, die ihnen Spaß machen, da durch die Intensität der Arbeit die Dopaminproduktion gesteigert wird. Gleichzeitig fällt es ihnen jedoch schwer, sich auf Routineaufgaben zu konzentrieren.

Grafik ADHS im Job
Herausforderungen am Arbeitsplatz für Mitarbeitende mit ADHS

Weitere Symptome wie Ablenkbarkeit, Vergesslichkeit und fehlendes Zeitmanagement können dazu führen, dass sie von Vorgesetzten und Kolleginnen / Kollegen als schwierig wahrgenommen werden. Diese Verhaltensweisen haben auch weitreichende Konsequenzen für die Beschäftigungschancen und die Karriereperspektiven. Studien zeigen, dass Mitarbeitende mit ADHS oft lückenhafte Lebensläufe haben, häufiger gekündigt werden als ihre neurotypischen Kolleginnen und Kollegen und häufiger und länger arbeitslos sind. Aufgrund der zahlreichen negativen Erfahrungen haben viele Menschen mit ADHS– wie im Eingangszitat sichtbar – ein niedriges Selbstwertgefühl.

Chancen beim Einsatz von Mitarbeitenden mit ADHS im Job

ADHS im Job: Herausforderung oder Geheimwaffe?
Envato/davidpereiras

Neben den dargestellten Schwierigkeiten bringen Mitarbeitende mit ADHS im Job jedoch auch außergewöhnliche Stärken mit, die sie wertvoll machen – insbesondere in schnelllebigen und kreativen Arbeitsumgebungen. Diese Stärken werden häufig als Superkräfte bezeichnet und von Prominenten, wie beispielsweise Michael Phelps, Simone Biles oder Richard Branson, als Grundstein ihres Erfolgs gesehen. Mitarbeitende mit ADHS haben die Fähigkeit, sich intensiv auf Aufgaben zu konzentrieren, die sie begeistern. Diese oft als „Hyperfokus“ bezeichnete Stärke ermöglicht es ihnen, mit hohem Engagement über einen langen Zeitraum an einem Thema zu arbeiten, in diesem Tätigkeitsbereich außergewöhnliche Leistungen zu erbringen und sich Expertenwissen anzueignen.

Sie zeichnen sich darüber hinaus durch ein hohes Maß an Kreativität und Innovationsfähigkeit aus. Sie sind oft bereit, Risiken einzugehen und neue Wege auszuprobieren, wodurch sie „outside the box“ Lösungen für Unternehmen generieren können. Mitarbeitende mit ADHS sind darüber hinaus flexibel und in der Lage, sich schnell auf neue Situationen einzustellen. Dies macht sie zu einem wichtigen Unterstützer von Veränderungsprozessen in Organisationen. Zuletzt haben viele Mitarbeitende mit ADHS ein hohes Maß an Empathie und ein starkes Gerechtigkeitsgefühl. Sie können sich gut in ihre Kolleginnen und Kollegen hineinversetzen und setzen sich stark für deren und Belange des Teams ein.

Wie sollten Unternehmen Mitarbeitende mit ADHS im Job bestmöglich einsetzen, um von ihren Stärken zu profitieren? Unsere Forschung zeigt, dass insbesondere vier Faktoren entscheidend dafür sind, wie Mitarbeitende mit ADHS ihre Stärken effektiv einsetzen können.

1. Spannende Arbeitsinhalte

Foto Teamwork
Envato/Pressmaster

Mitarbeitende mit AHDS sind immer dann besonders leistungsfähig, wenn die Tätigkeit ihren Interessen und Vorlieben entspricht und somit intellektuelle Stimulation bietet. Ist dies nicht der Fall, kommt es zu Konzentrationsproblemen, Desinteresse und dem Nicht-Erledigen von Aufgaben. Unternehmen können vorbeugen, indem sie schon bei der Personaleinstellung sehr transparent den Aufgabenumfang einer Stelle darlegen und mit dem Mitarbeitenden gemeinsam besprechen, inwieweit die einzelnen Aspekte mit seinen Wünschen vereinbar sind.

Darüber hinaus können Unternehmen Mitarbeitende mit ADHS im Job unterstützen, indem sie Routinetätigkeiten weitestgehend ausgliedern beziehungsweise entsprechende Unterstützungsangebote schaffen. Zudem ist es wichtig, diesen Mitarbeitenden ausreichend Autonomie zu gewähren, damit sie ihre Tätigkeiten im gewünschten Rhythmus ausüben können.

2. Abwechslungsreiche Tätigkeiten

Wiederholende und monotone Routinetätigkeit sind insbesondere für Mitarbeitende mit ADHS sehr herausfordernd. Besonders leistungsfähig sind diese, wenn sie mit neuen Herausforderungen oder wechselnden Aufgaben konfrontiert werden. Für Unternehmen bietet es sich daher an, Mitarbeitende mit ADHS im Projektgeschäft einzusetzen.

3. Sinnhaftigkeit

Mitarbeitende mit ADHS sind engagierter, wenn ihre Arbeitstätigkeit eine persönliche oder gesellschaftliche Bedeutung hat beziehungsweise wenn sie einen tieferen Sinn sehen. Unsere Forschung hat gezeigt, dass sie ihre Stärken insbesondere in Krisensituationen sehr gut ausspielen können. Auch das Gefühl, dem Unternehmen bzw. anderen Kolleginnen und Kollegen zu helfen, wirkt sich positiv auf die Leistungsfähigkeit von Mitarbeitenden mit ADHS aus. Tätigkeiten in Bereichen, die sinnstiftend sind, wie beispielsweise Notfallaufnahmen, soziale Berufe oder Tätigkeiten mit Kindern und Jugendlichen sind daher besonders geeignet.

4. Unterstützendes Arbeitsumfeld

Foto Teamarbeit
Envato/AboutImages

Ein wertschätzendes und respektvolles Miteinander ist eine wichtige Voraussetzung, damit Mitarbeitende mit AHDS im Job ihre Leistungen erbringen. Dazu gehört der tägliche Umgang mit Kolleginnen und Kollegen, aber auch die Beziehung zu direkten Vorgesetzten und anderen Entscheidungsträgern im Unternehmen.

Unsere Forschung zeigt deutlich, dass Mitarbeitende mit ADHS impulsiv kündigen, wenn sie Situationen von Misstrauen, Zurückweisung oder Diskriminierung erleben. Dabei müssen diese Situationen nicht unbedingt sie selbst betreffen, es reicht häufig schon aus, wenn sie Zeuge von entsprechenden Situationen werden.

Fazit

Mitarbeitende mit ADHS bringen einzigartige Stärken mit, die in vielen Unternehmen von großem Wert sein können. Unternehmen, die ein unterstützendes Arbeitsumfeld schaffen und gezielt auf die individuellen Stärken dieser Mitarbeitenden eingehen, profitieren nicht nur von innovativen Lösungen, sondern auch von engagierten und empathischen Teammitgliedern. Indem Organisationen neurodiverse Talente aktiv fördern, schaffen sie nicht nur eine inklusivere Unternehmenskultur, sondern setzen auch wertvolle Impulse für eine zukunftsorientierte und vielfältige Arbeitswelt.

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Foto Kerstin Alfes

Kerstin Alfes ist Professorin für Organisation und Personalmanagement sowie Prorektorin für Lehre an der ESCP Business School, Campus Berlin. Sie ist eine führende Expertin für strategisches Personalmanagement, Mitarbeiterengagement, und Diversität und Inklusion. Vor ihrer Zeit an der ESCP war sie an der Kingston University London und der Tilburg University tätig und hat umfangreich in führenden Fachzeitschriften veröffentlicht. 2023 wurde sie als eine der 40 führenden Köpfe Deutschlands im Bereich Personalmanagement ausgezeichnet. Foto: Manuel Gutjahr

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