Generalisten sind im Weitwinkel-Modus unterwegs. Sie handeln ganzheitlich und sind vielseitig einsetzbar. Ein Plädoyer von Anne M. Schüller für Mitarbeitende, die in der neuen Businesswelt mit ihrer permanenten Vorläufigkeit multiperspektivisch denken und das Beste aus verschiedenen Bereichen zusammenführen.
Selbst das beste Tiefenwissen wird wertlos, wenn eine neue Technologie eine alte komplett ersetzt, wenn menschliche Expertisen durch automatisierte Verfahren ausgetauscht werden und KI zunehmend Spezialisten-Jobs übernimmt. Aufwind hingegen haben die, mit deren Hilfe sich die Unternehmen zügig an immer neue Gegebenheiten proaktiv anpassen können: die Generalisten.
In einer vernetzten Welt entsteht Prosperität am ehesten dann, wenn sich die unterschiedlichsten Perspektiven, Gewerke, Kulturen und Kompetenzen miteinander verbinden. Schnittstellen sind die dynamischsten Orte für Fortschritt und Wandel. Sie bieten beste Gelegenheiten für die Neuverknüpfung von Möglichkeiten. So entstehen gänzlich neue Geschäftsmodelle, neue Organisationsdesigns, neue Formen der Arbeit – und damit auch immer neue Berufe, während alte verschwinden.
Hierbei werden sich Unternehmen zunehmend transfunktional, also über die Unternehmensgrenzen hinweg organisieren, um Knowhow zu bündeln, Marktchancen zu erweitern und kostspielige Technologien gemeinsam zu stemmen. Universitäten, Forschungseinrichtungen, Gründer und Investoren tun sich mit Corporates verschiedenster Zweige zusammen, um Innovationen miteinander voranzutreiben. Und das wird, wie alles andere auch, immer schneller passieren.
Zunehmend vonnöten: kombinatorische Intelligenz
In dieser neuen Businesswelt mit ihrer permanenten Vorläufigkeit werden wir Mitarbeitende brauchen, die multiperspektivisch denken und handeln, sich ständig weiterentwickeln und, aufbauend auf einem breiten Wissensfundament, Gesamtzusammenhänge verstehen. Wenn sich zudem die Gegebenheiten von jetzt auf gleich gänzlich verändern können, werden wir mehr und mehr Menschen brauchen, die sich in der Breite der Unternehmenslandschaft einsetzen lassen.
Generalisten mit kombinatorischer Intelligenz sind dafür geradezu prädestiniert. Sie können Verbindungen schaffen, Separiertes zusammenführen, Bestehendes neu organisieren und divergierende Interessenlagen synchronisieren. Ihnen gelingt es, verschiedene Rollen einzunehmen, gerade auch dann, wenn bei hoher Dynamik Randthemen oder neueste Technologien plötzlich zum Mainstream werden und die Unternehmen sehr zügig darauf reagieren müssen.
Der Mehrwert, den Generalisten einbringen können
Generalisten sind selbstinnovativ und selbstdisruptiv, das heißt, sie erfinden sich ständig neu. Als flexible Interdisziplinäre, das Große-Ganze-Erkenner und Horizontal-durch-das Unternehmen-Agierer spielen sie eine entscheidende Rolle. Dazu zählen auch Koordinatoren, die das Zusammenwirken von künstlicher und menschlicher Intelligenz orchestrieren und Mensch-Maschine-Interaktionen geschmeidig machen.
Firmenintern sind technologische Brücken zu bauen, weil die Digitalisierung alle in allen Bereichen betrifft, man darf sie nicht in eine Abteilung sperren. Junge Expertise und gutes altes Erfahrungswissen müssen miteinander verwoben werden. Die verschiedenen internen Innovationsprojekte brauchen verbindende Elemente. Partnerschaften zwischen Etablierten und Startups müssen sinnvoll zusammengehen. Technologie und Nachhaltigkeit verschmelzen zur Twin Transformation.
Und alles, was zum Markt hin passiert, muss bereichsübergreifend abgestimmt werden, denn dem Kunden ist Abteilungsdenke egal. Singuläre Zuständigkeiten interessieren ihn nicht. Er will, dass die Leistungskette wie aus einem Guss funktioniert. Wer sich also in verschiedenen Bereichen auskennt und unterschiedliche Disziplinen zusammenbringt, erhöht die Erfolgschancen seines Unternehmens sehr. Zugleich steigert er seine eigene Employability, seinen Wert am Arbeitsmarkt.
Die zukunftsrelevante Typologie eines Generalisten
Generalisten sind im Weitwinkel-Modus unterwegs. Über ihre eigentliche Expertise hinaus haben sie vielfältige weitere Interessen, so dass sie ganzheitlicher handeln und multipel einsetzbar sind. Sie haben Kompetenzen in mehreren Arbeitsfeldern und sind so in der Lage, zu erkennen, wie die Dinge zusammenhängen. Dort, wo ein Experte nur Ausschnitte sieht, nur „seinen“ Weg kennt und folglich auch nur diesen Weg geht, bringen Generalisten das Beste aus vielen Bereichen zusammen. Sie formen aus den Puzzlestücken der Spezialisten ein „Big Picture“, das Zukunftsbild des Unternehmens.
Generalisten sind Multitalente. Sie tragen Diversity, also Vielfalt und Reichhaltigkeit quasi in sich. Sie funktionieren mit der Rundumsicht eines Radars und erkennen die Bandbreite eines Problems im Gesamtgefüge. Sie agieren wie Konnektoren, die das Wissen und Können von heute mit der Zukunft verbinden. Experten denken sich tief in ein Thema rein. Generalisten involvieren mehrere Sachgebiete. Mit beidem zusammen kann es gelingen, die besten Ideen von innerhalb und außerhalb des Unternehmens zu kombinieren. Dies ermöglicht Innovationssprünge in ganz neue Dimensionen.
Breite Wissensbasis führt zu besseren Entscheidungen
In Umgebungen, die in hohem Maße von Ungewissheit geprägt sind, sind vielfältige Erfahrungen und eine hohe Adaptionsfähigkeit Gold wert. Zudem treffen Menschen mit weitgespannten Interessen, einem breitgefächerten Wissenshorizont und ausgeprägter Kombinatorik unter Unsicherheit bessere Entscheidungen, weil sie mehr Optionen ersinnen können. Sie haben ein größeres eigenes Handlungsrepertoire und mehr Offenheit für unübliche Blickwinkel und neuartige Herangehensweisen.
Ein umfassender Shift vom Analogen zum Digitalen, vom Klimafeindlichen zum Klimafreundlichen und von fossilen zu erneuerbaren Energien erfordert ständig neue Kompetenzen und maximale Lernfähigkeit. Bei breitem Wissen und Können gelingen Umschulungsmaßnahmen leichter. Spezialisten hingegen haben oft Mühe, plötzlich etwas völlig anderes machen zu müssen. Denn Spezialisten sind meist Monotalente.
Future HR: Generalisten rekrutieren und integrieren
Spezialisten sehen, wie durch eine Lupe, nur die Aspekte, die ihre Expertise umfassen, das allerdings in großer Tiefe. Sie erkennen die Knackpunkte und den Problemkern, auch das ist natürlich wichtig. Doch isolierte Einzelaktionen können in vernetzten Umgebungen großes Unheil anrichten. Unternehmen sind Ökosysteme und mit biologischen Ökosystemen vergleichbar. Welche Fehlentwicklungen und Folgeschäden punktuelle Eingriffe bei Letzteren auslösen können, ist längst bekannt.
Im Spezialistentum wird ein System in seine Einzelteile zerlegt, und jeder Teilbereich wird für sich optimiert. Dies erzeugt Interessenkonflikte und internen Wettbewerb, weil jeder für seinen Teilbereich oder seine Teillösung kämpft. In komplex miteinander vernetzen Systemen passt so etwas nicht. Hier brauchen wir integrative Konzepte, die das große Ganze im Blick behalten. Generalisten können genau das.
Sie haben zudem die erfreuliche Eigenschaft, sich gleichzeitig mit völlig konträren Aspekten und diametral entgegengesetzten Ideen auseinanderzusetzen. Dabei wählen sie nicht den Weg des geringsten Widerstands. Sie gehen auch keine faulen Kompromisse ein. Aus dem Besten aus Zweierlei entsteht vielmehr etwas noch besseres Drittes. So ist zum Beispiel der Touchscreen entstanden. Nicht entweder ein größerer Bildschirm oder eine komfortablere Tastatur, sondern beides in einer ganz neuen Form.
Das neue Buch der Autorin
Anne M. Schüller
Zukunft meistern
Das Trend- und Toolbook für Übermorgengestalter
Gabal Verlag 2024, 232 S., 29,90 €
ISBN: 978-3-96739-181-7
Lesen Sie auch die weiteren Beiträge von Anne M. Schüller:
- Die Zukunft meistern: „Was geht denn schon mal?“
- Ein neues Mindset: Führung und Kultur in jungen Unternehmen
- Übermorgengestalter – bei Ihnen tatsächlich willkommen?
Anne M. Schüller ist Managementdenker, Keynote-Speaker, mehrfach preisgekrönte Bestsellerautorin und Businesscoach. Die Diplom-Betriebswirtin gilt als führende Expertin für das Touchpoint Management und eine kundenfokussierte Unternehmensführung. Zu diesen Themen hält sie Impulsvorträge auf Tagungen, Fachkongressen und Online-Events. 2015 wurde sie für ihr Lebenswerk in die Hall of Fame der German Speakers Association aufgenommen. Beim Business-Netzwerk Linkedin wurde sie Top-Voice 2017 und 2018. Von Xing wurde sie zum Spitzenwriter 2018 und zum Top Mind 2020 gekürt. Ihr Touchpoint Institut bildet zertifizierte Touchpoint Manager und zertifizierte Orbit-Organisationsentwickler aus.