Vertrauensurlaub: Wie funktioniert das in der Praxis?

| |

Unbegrenzter Urlaub – auch bekannt als Vertrauensurlaub – klingt wie ein Traum. Nora Feist von Mashup Communications berichtet über Learnings und schildert, was Unternehmen beachten sollten.

Welche Vorurteile und rechtliche Hürden gilt es zu überwinden? Wie muss eine längere Auszeit im Unternehmen geplant werden? Und welche Vorteile versprechen sich Mitarbeitende und Arbeitgeber davon?

Die Einführung von Vertrauensurlaub war das Ergebnis unserer offenen Unternehmenskultur und der Ereignisse, die 2020 über uns hereinbrachen. Wir setzten uns für 2021 das Ziel: Unsere Gesundheit sollte die wichtigste KPI sein. Dazu stellten wir als Agentur zunächst die Frage, wie wollen wir in Zukunft zusammenarbeiten und den individuellen Bedürfnissen gerecht werden? Aus einer Utopie wurden konkrete New-Work-Maßnahmen. Wichtigste Orientierungshilfe waren unsere Unternehmenswerte: Flexibilität und Unabhängigkeit. Wir gestalteten im Team ein passendes Modell für komplett offene Dienstzeiten.

- Anzeige -
Banner English Edition HR JOURNAL

Der Schritt von der Vertrauensarbeitszeit zum Vertrauensurlaub stieß in unserer Agentur zunächst auf Skepsis und wenig Gegenliebe. Plötzlich waren die eigenen Bedürfnisse, wie Urlaubstage als Verhandlungsgrundlage oder die Angst, andere könnten ständig und viel mehr freie Tage nehmen als man selbst, viel stärker als der eigentliche individuelle Mehrwert. Wir überzeugten schließlich auch die letzten Zweifelnden, indem wir von unseren Erfahrungen mit unbegrenzter arbeitsfreier Zeit berichteten. Nun mussten nur noch die richtigen Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden.

Urlaubsanspruch vs. flexible Auszeiten

In Deutschland sind Arbeitszeit und Urlaubsanspruch gesetzlich geregelt. Beschäftigte haben einen Urlaubsanspruch von mindestens 20 freien Tagen pro Jahr bei einer 5-Tage-Woche. Als Unternehmen ist es mir also freigestellt, wie viele Urlaubstage ich meinen Mitarbeitenden ermöglichen möchte, solange die Mindestanzahl nicht unterschritten wird. Ein begründetes Vorurteil, was mir immer wieder begegnete, war die Aussage, dass mit Vertrauensurlaub die Mitarbeitenden noch weniger Ferien nehmen würden als ihnen eigentlich zustand. Das war bei großen US-amerikanischen Firmen, wie Netflix, Dropbox oder Pinterest, der Fall. Wir legten wir deshalb strikte Regeln fest, um sicherzustellen, dass unsere Mitarbeitenden tatsächlich genügend Urlaub nehmen.

Nicht nur aus rechtlicher Sicht war es wichtig, den vorgeschriebenen Anspruch von 20 Tagen als Pflichturlaub einzuführen. Dieser muss nun am Anfang des Jahres oder mit Beginn eines neuen Arbeitsverhältnisses bereits grob geplant werden, um mögliche Engpässe im Team rechtzeitig abzufedern und die entsprechende Vertretung zu planen.

Über die Pflichtzeit hinaus gibt es unbegrenzten Vertrauensurlaub. Dieser darf bei uns jedoch einen Monat am Stück nicht überschreiten. Zudem beträgt der Vorlauf für die Einreichung, sowohl für Pflicht- als auch Vertrauensurlaub, immer mindestens die doppelte Zeit der beantragten Tage. Und ganz wichtig, am Ende entscheiden weiterhin die Führungskräfte, ob die eingereichte Erholungszeit so genommen werden kann oder es sonst zu Kapazitätsengpässen kommt.

Vertrauensurlaub: Benefit für Mitarbeitende und Arbeitgebende gleichermaßen

Vertrauensurlaub am Meer
Twenty20/@CroncePhoto

Warum haben wir als Agentur Interesse daran, Vertrauensurlaub einzuführen? Regelmäßige Auszeit – egal ob es sich um ein verlängertes Wochenende oder zwei Wochen am Stück handelt – ist einfach notwendig, um arbeitstüchtiges, motiviertes Personal zu haben. Die Erfahrung zeigt, dass die Stimmung im Team schnell kippen kann, wenn jemand urlaubsreif ist. Die Konzentration lässt nach, Antriebslosigkeit und Müdigkeit hinterlassen Spuren. Das merken auch die Kundinnen / Kunden.

Viele Mitarbeitende nehmen kaum oder gar keine Freizeit, weil sie denken, unersetzbar zu sein. Oder weil sie befürchten, dass die eigene Arbeit liegen bleibt und sich nach der Pause noch weiter aufgetürmt hat. Nur rächt sich dieses Verhalten irgendwann und geht zu Lasten des eigenen Wohlbefindens.

Unsere Learnings für eine längere Auszeit – Vorbereitung steht vor Erholung

Arbeitnehmende in Deutschland haben durchschnittlich 28,9 Urlaubstage im Jahr, aber ist das genug, um der Berufswelt sowohl körperlich als auch mental zu entfliehen? Körper und Geist geben wichtige Signale, wann es Zeit für eine längere Auszeit ist. Wenn Teammitglieder jedoch drei oder vier Wochen abwesend sind, muss dies gut geplant werden, um nicht zu Lasten der übrigen Kollegen zu gehen. Die folgenden Punkte sollten bei einer mehrwöchigen Abwesenheit beachtet werden:

1. Rechtzeitig den Vertrauensurlaub planen und kommunizieren.

2. Teammitglieder frühzeitig in die eigenen Projekte einbeziehen.

3. Langfristige Aufgaben detailliert vorbereiten und wichtiges bereits erledigen.

4. Priorisieren, delegieren und loslassen.

5. Mit entspanntem Kopf neu durchstarten.

Erholung vs. Krankenstand: Fazit und Ergebnisse aus einem Jahr Vertrauensurlaub

Foto Gleitschirmflieger
Twenty20/@tommasogasparini

Nach einem Jahr „Feldexperiment“ haben wir die genommen Urlaubs- und Krankentage in unserem Unternehmen einmal genauer unter die Lupe genommen. Die gute Nachricht zuerst: Alle Teammitglieder nutzten ihre 20 Pflichttage. Zusammen mit ihrer Vertrauenszeit gönnten sich die Kolleginnen / Kollegen zudem mehr Jahresurlaub, als ihnen vorher vertraglich zugesichert war.

Im Durchschnitt kamen die Mitarbeitenden so in einem Jahr auf 35 freie Tage. Von der Verteilung her haben sich unsere langjährigen Senior-Beraterinnen / -Berater meist mehr Urlaub genommen als die jüngere Generation. Vielleicht auch, weil sie aus der Erfahrung wissen, dass unsere Maßnahmen nicht nur auf dem Papier schön aussehen, sondern wirklich gelebt werden dürfen.

Die schlechte Nachricht unserer Analyse zeigt aber auch: Der durchschnittliche Krankenstand hat sich durch den Vertrauensurlaub nicht wirklich verringert. Nun muss man dazu sagen, dass wir auch 2022 mitten in der Pandemie steckten und neben Corona auch andere Erkrankungen eine Rolle spielten. Hinzu kamen die krankheitsbedingten Ausfälle der kleinen Familienmitglieder, die wir als Arbeitgeber mit einem hohen Mütteranteil nur schwer beeinflussen können.

Auch wenn der Vertrauensurlaub im letzten Jahr keinen spürbaren Einfluss auf die durchschnittlichen Krankheitstage hatte, so merken wir im Unternehmen, wie dankbar die Mitarbeitenden für die Möglichkeit der unbegrenzten freien Tage sind. Letztendlich ist der Vertrauensurlaub ein Baustein für eine wertschätzende, faire Arbeitsatmosphäre, welche den gesunden Menschen in den Mittelpunkt stellt. Und dieses Ziel werden wir auch in den nächsten Jahren weiterverfolgen und anstreben.

Lesen Sie auch die folgenden Beiträge:

Foto Nora Feist

Nora Feist ist gemeinsam mit Miriam Rupp Geschäftsführerin von Mashup Communications, der Berliner Agentur für PR und Brand Storytelling. Als HR-Verantwortliche konzentriert sie sich auf Employer Branding und sorgt in der Agentur dafür, dass arbeitstechnisch zusammenkommt, was zusammenpasst.

Vorheriger Beitrag

HR-Stellen: Personalentwicklung gewinnt, Employer Branding verliert

Reskilling: Wie HR Talenten Schwung für den Wandel gibt

Folgender Beitrag