Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, müssen Unternehmen eine Menge bieten, sagt Harald Smolak, Partner & Leiter People Management bei Atreus. Er beschreibt detailliert, was diese tun können.
Bereits in den 1980er Jahren hatte die Siemens AG ein sehr professionelles, internationales Trainee-Programm für Jungakademiker entwickelt und den Top-Absolventen unter den Ingenieuren und Kaufleuten als Berufseinstieg angeboten. Zugleich lautete der Slogan für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter „Wir gehören zur Familie“. Dieses Programm gibt es heute noch im Dax-Konzern – und es hat sich ständig weiterentwickelt. Das musste auch sein: Denn durch den zunehmenden Fachkräftemangel werden Unternehmen vom Mittelstand bis zum Großkonzern in der heutigen Zeit viel stärker gefordert, hochqualifizierte Mitarbeiterinnen / Mitarbeiter zu gewinnen.
Die Marke oder ein großer Konzernname allein reicht nicht mehr aus, um die besten Talente zu gewinnen. Mitarbeiterinnen / Mitarbeiter wägen ab – und Aspekte wie Entwicklungschancen, Work-Life-Balance, Standort und Nachhaltigkeit beeinflussen die Wahl des Arbeitgebers. Welchen Wertbeitrag kann ich im Unternehmen leisten? Was bietet das Unternehmen für einen Mehrwert für die Gesellschaft? Wie zukunftsträchtig ist das Geschäftsmodell und welche Unternehmenskultur lässt sich aus den Bewertungen in den unterschiedlichsten Kommunikationskanälen herauslesen? Zeigt sich die Unternehmenskultur durch Bewertungen in diversen Kommunikationskanälen? All diese Fragen stellen sich potenzielle neue Mitarbeiterinnen / Mitarbeiter heute. Um dem Fachkräftemangel mutig zu begegnen, müssen Unternehmen folglich eine Menge bieten.
Herausforderungen in der Talentfindung und -förderung
In Bewerbungsratgebern sollten sich individuelle Bewerbungen deutlich von „Mainstream -Bewerbungen“ unterscheiden. In einem stark umkämpften Bewerbermarkt gilt das heute ebenso für Unternehmen. Social-Media-Kanäle haben klassische Anzeigen in Zeitungen überholt. Das heißt jedoch nicht, dass man klassische Stellenanzeigen eins zu eins auf Instagram abbilden sollte. Diese Kanäle brauchen einen besonderen Kick. Emotionalität steht im Vordergrund. Aufmerksamkeit wird nicht durch Zahlen, Daten, Fakten erreicht.
Teammitglieder zu halten und weiterzuentwickeln, wird häufig vernachlässigt
Obwohl HR seit vielen Jahren vor diesem Fachkräftemangel und dem Abgang der geburtenstarken Jahrgänge warnte, haben sehr viele Unternehmen unzureichend mit Gegenmaßnahmen reagiert. Die Optimierung von Prozessen durch die Digitalisierung stand im Vordergrund. Schließlich sollte dadurch vor allem Personal eingespart werden. Um möglichst schnell Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für das Unternehmen zu gewinnen und Löcher zu stopfen, fokussiert man sich häufig auf das Recruiting und denkt zu wenig an die Integration. Zusätzlich werden externe Dienstleister wie Personalberater engagiert, um noch gezielter passende Kandidaten an Bord zu holen. Führungskräfte, die ad-hoc zu besetzen sind, werden durch Managementberatungshäuser für Interim-Funktionen unterstützt.
Schnell neue Kräfte ins Unternehmen zu holen, reicht nicht
Es erfordert vor allem eine professionelle Einarbeitung. Hier zeigt sich, ob Unternehmen tatsächlich halten, was sie den Kandidatinnen / Kandidaten im Bewerbungsprozess versprochen haben. Denn Studien zeigen, dass in Deutschland 18 Prozent von über 2.000 Bewerbern in den ersten 100 Tagen ihre Neuanstellung wieder beenden. So erfordert ein strukturierter Onboarding-Prozess nicht nur die Schulung von internen Prozessen und Tools, sondern auch kontinuierliches Feedback, offene Kommunikation und Integrationsmechanismen hinsichtlich der gewünschten geförderten Unternehmenskultur.
Durch „New Work“-Arbeitsmodelle ist die virtuelle Zusammenarbeit nicht mehr wegzudenken. Gerade für Neueinsteigerinnen / Neueinsteiger ist die Integration in die Arbeitsprozesse dadurch nicht einfacher geworden. Der persönliche Kontakt mit Kollegen, Gleichgesinnten und den Vorgesetzten ist deshalb ein wesentlicher Erfolgsfaktor. So können Patenschaften bzw. ein Mentoren-Programm im Onboarding-Prozess die Integration unterstützen. Je besser dies gelingt, desto höher ist die Arbeitszufriedenheit – auch wenn noch nicht alle Prozesse im Unternehmen professionalisiert sind. Im Idealfall sollten Mentoren aus dem erfahrenen Kollegenkreis der Kandidaten gewählt werden.
Fachkräftemangel vs. Führungskräftemangel
Mitarbeiterinnen / Mitarbeiter zu halten, erfordert ein professionelles Onboarding und eine kontinuierliche Weiterentwicklung von Talenten – ganz besonders von denjenigen, die sich im Unternehmen schon länger bewiesen haben. Eine maßgebliche Führungsaufgabe, die im Tagesgeschäft häufig vernachlässigt wird. Gerade in Zeiten des steigenden Führungs- / Fachkräftemangels ist es essenziell, die Leistungsträgerinnen / Leistungsträger langfristig an das Unternehmen zu binden. Deshalb wandelt sich das Führungsverständnis von monokausalem Fordern, der Zielerreichung und dem Aufzeigen von Schwachstellen hin zu einem Fördern der Stärken von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der beruflichen Entwicklung.
So kommt zu einer traditionellen transaktionalen Führung die transformale Komponente hinzu. Ein Mindset-Shift für Führungskräfte, die primär durch Zahlen, Daten, Fakten sozialisiert wurden. Zu selten werden in Performance-Beurteilungen von Führungskräften die Führungsqualitäten beurteilt und incentiviert. Dadurch werden Führungskräfte mit starker fachlicher Performance heute immer noch unabhängig von Führungsqualität tendenziell besser bewertet. Der wirtschaftliche Erfolg, also das „Was“, verdeckt häufig das „Wie“ – nämlich wie das Ergebnis erreicht wurde.
Konflikte als Kalibrierung, Änderungen zeitnah erkennen und anpassen
Unternehmensführung ist grundsätzlich konfliktär. Nach dem Soziologen und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann bestehen Organisationen vorwiegend aus Kommunikationen. Daraus entstehen Entscheidungen, die das Handeln in der Zukunft in Risiko und Gefahr spaltet. So ist jede Handlung mit unterschiedlichen Interessen und Konflikten behaftet.
Moderne Führung braucht den Mut, verdeckte Konflikte offen bei den Stakeholdern anzusprechen. Das bedeutet nicht, den Anspruch zu haben, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die getroffenen Entscheidungen zu gewinnen. Dadurch können Entscheiderinnen / Entscheider unterschiedliche Perspektiven wahrnehmen und die Auswirkung von getroffenen Maßnahmen reflektierter einordnen. Denn Führung bedeutet, Entscheidungen zu fällen, um den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Halt und Orientierung zu geben – auch mit dem Bewusstsein, dass dies nicht immer gelingt.
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Harald Smolak arbeitet als Partner & Leiter der Solution Group Human Capital Management bei der Interim Management Beratung Atreus aus München. Sein Fokus liegt auf den Bereichen Mindful Leadership, Coaching von Top-Führungskräften, Konfliktmanagement, Organisations- und Teamentwicklung sowie Unternehmenstransformationen. Foto: Caroline Floritz