„Kontemplation statt Achtsamkeit“ fordert der Führungsphilosoph Guido Schmidt. Es gelte, der Oberflächlichkeit der Zeit etwas Neues entgegenzusetzen, sich wieder mehr Zeit für die wichtigen Dinge zu nehmen.
Aus New Work ist New Normal geworden. Was aber sind die Aspekte, die in der Zukunft normal werden sollten? Ein modischer Ansatz ist Achtsamkeit. Dynamik und Komplexität der Welt führt zu Stressreaktionen, Burn-Out-Syndromen und unattraktiven Arbeitsplätzen. Die hohen Belastungen sollen durch Entschleunigung und Achtsamkeit aufgefangen werden. Achtsamkeit wird aber mit den Herausforderungen der Pandemie und einer sich abzeichnenden strukturellen Wirtschaftskrise in den Archiven der Personaler verschwinden.
Mit Achtsamkeit gegen die Hektik
Das Wort Achtsamkeit weckt zunächst einmal Neugierde. Warum nicht Aufmerksamkeit? Wo kommt das Wort eigentlich her? Sind wir in dieser Gesellschaft grundsätzlich überfordert und gehen nicht mehr achtsam mit uns selbst und anderen um?
Die Diskussion um Achtsamkeit basiert auf die Behauptung, dass diese Welt mit ihrer Hektik und den zahlreichen Anforderungen von Familie und Beruf krank macht. Also muss man dem entgegen treten im privaten Umfeld und auch bei der Arbeit. Arbeit darf kein entmenschlichter Bereich sein. Mit Achtsamkeit treten die Personaler gegen eine kalte und technokratische Wirtschaft an.
Ein Aspekt der bisherigen pandemischen Maßnahmen ist eine gewisse Art der Entschleunigung. Die Arbeit von zuhause, der weitgehende Verzicht auf Dienstreisen, die eingeschränkten Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und auch eine Überprüfung der eigenen Wertmaßstäbe haben das erreicht, was die Protagonisten von Achtsamkeit gerne erreichen wollten: Die Welt bewusster wahrnehmen.
Achtsamkeit gehört nicht in die Unternehmen
Im Zentrum von Achtsamkeit stehen das persönliche Wohlergehen und die eigene Gesundheit. Stressreduktion, Motivation und Leistungsfähigkeit sind individuelle Faktoren, die durchaus in das „Große Ganze“ einzahlen können. Gleichwohl ist das Modewort Achtsamkeit ein weiterer Ausdruck einer totalen Individualisierung der Gesellschaft. Die Individualisierung muss aber in jeder Gemeinschaft, auch in einem Unternehmen, irgendwo seine Grenzen finden. Diese Grenze wird bei Achtsamkeit im Büro weit überschritten.
Das moderne Wort Achtsamkeit hat einen starken Bezug zu uralten überlieferten Weisheiten der chinesischen Philosophie. Es geht um ein Eintauchen in sich selbst und ein ganzheitliches Verständnis der Umgebung. Beobachtend, vorurteilsfrei, akzeptierend und ohne das Wollen zur Gestaltung. Eine Form der Trance, also des halbwachen Zustandes der totalen Erkenntnis.
Es ist für mich nur schwer vorstellbar, bei der Arbeit in diesen besonderen Bewusstseinszustand abzutauchen. Die Anforderungen der Wirtschaft bestehen in Aufgaben und gemeinsamen Zielen. Man soll nicht in Trance, sondern fokussiert arbeiten. Bildlich gesprochen gehört die Yogamatte nicht ins Büro.
Achtsamkeit ist eine teure Masche
Was sich so menschlich und so notwendig anhört, ist in Wirklichkeit ein riesiges Geschäft. Die psychologisch geschulten Coaches und Trainer haben ein neues Feld entdeckt, mit dem sich gutes Geld verdienen lässt. Sie versprechen einen hohen Nutzen in nur drei, vier oder fünf Schritten. So gibt es ein ganzes Set an Achtsamkeitsseminaren, Workshops und Büchern.
Sie können aber sicher sein, dass ein tiefgreifendes Verständnis der chinesischen Philosophie nicht mit einer geilen Methode oder einem methodischen Dreisprung zu erreichen ist. Das philosophische Verständnis ist ein langer und steiniger Weg. Ich selber habe genau zwanzig Jahre gebraucht, um den tieferen Sinn des „Nichtwollens“ als Grundlage von Gelingen zu verstehen.
Kontemplation statt Achtsamkeit
Es gibt allerdings zwei wichtige Aspekte der Achtsamkeit, die wir in die Zeit nach der Pandemie retten sollten.
Es ist zwingend notwendig, der Oberflächlichkeit der Zeit etwas Neues entgegen zu setzen. Es ist aus der Mode gekommen, sich vertieft mit Sachverhalten auseinander zu setzen. Überall herrscht Hektik und die unreflektierte Meinung ersetzt das tiefgründige Verstehen. Alles soll schnell gehen und das sofortige Handeln ersetzt das richtige Tun. Damit ist in den Unternehmen an viele Stellen die Qualität abhandengekommen. In den (virtuellen) Sitzungsräumen treffen unreflektierte Ansichten aufeinander und nicht das verständnisvolle Ringen um die Wahrheit. Hauptsache, man bekommt die Sache vom Tisch.
Damit sind wir an einem Punkt, der schon vor mehr 2.000 Jahren in der Philosophie diskutiert wurde. Was ist das richtige Verhältnis von Verstehen und Handeln? Die Forderung eines besseren Verstehens, als Grundlage des richtigen Handelns wurde schon in der Antike als Kontemplation bezeichnet. In der griechischen Philosophie heißt so ein ganzheitliches Verstehen „Theoria“. Die Erkenntnis ist bei der Kontemplation das Ergebnis einer vertieften Auseinandersetzung mit der Sache. Die Kontemplation schließt dabei ganz ausdrücklich auch intuitive Aspekte des Verstehens ein. Kontemplation ist eine Art des “Zurück Besinnens“ und ergänzt die rein rationale Beschäftigung mit einer Sache.
Management kommt von Manus, die Hand und stellt das Handeln über das tiefgründige Verstehen. Und das ist falsch! Nur wegen unserer eigenen Oberflächlichkeit reden wir laufend von der Komplexität, die uns so beschäftigt. Wenn man die Sache wirklich verstanden hat, wird die Komplexität überwunden. Wenn man kapiert hat, wie es funktioniert, verschwindet die Hektik des Alltages.
Die Forderung eines kontemplativen, also vertieften Arbeitens, ohne permanente Ablenkung passt doch sehr gut in unsere Zeit. Die neue Arbeitswelt in Zeiten der Pandemie hat ja schon zu einer deutlichen Reduktion der Alltags-Hektik geführt. Lassen Sie uns wieder alle Sinne zum Verstehen der Welt einsetzen. Nehmen wir uns wieder mehr Zeit für die wichtigen Dinge. Dann wird auch der individuelle Stress weniger und die Qualität unserer Arbeit nimmt deutlich zu.
Das Buch zum Thema
Guido Schmidt: Klare Führung: Führungsphilosophie als Anleitung für gute und nachhaltige Entscheidungen, Springer Gabler; 1. Aufl. 2019, ISBN 978-3-658-25273-1, 34,99 Euro
Dr. Guido Schmidt ist Prestrukturierer, Führungsphilosoph und Autor. Er betreibt ein Unternehmen zur externen Unternehmensführung und „Die Gedankenschule“.