Scheinbar unverrückbare Glaubenssätze hemmen uns, Neues zu wagen. Anne M. Schüller beschreibt, wie man sich für Veränderung öffnet.
Wandel kollidiert oft mit den Beharrungstendenzen der Menschen. Scheinbar unverrückbare Glaubenssätze, unsere geistigen Filterblasen, hemmen uns, Neues zu wagen. Zudem spielen uns kognitive Verzerrungen gern einen Streich. Wie man das verhindert und sich für Veränderung öffnet, zeigt dieser Beitrag.
Den meisten Menschen gefällt es ungemein, Bestätigung für ihre Denkmuster, Handlungsroutinen und Glaubenssätze zu bekommen. Ferner tendiert man gern dazu, Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass sie den eigenen Erwartungen entsprechen und/oder diese bekräftigen. Manche beharren selbst dann auf ihrer Meinung, wenn neue Informationen diese längst widerlegen. Und bei all dem glauben wir überdies, im Recht und unbeeinflusst zu sein.
Die kognitiven Verzerrungen, die uns in diesem Kontext unterlaufen können, sind zahlreich. Im Englischen spricht man dabei von einem „cognitive bias“. Dies ist ein kognitionspsychologischer Sammelbegriff für fehlerhafte Neigungen beim Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Urteilen. Sie sind uns meist nicht bewusst – und wir fallen leider vielfach auf sie herein.
Oft gaukelt unser Gehirn uns auch etwas vor. Zum Beispiel füllt es Erinnerungslücken mit scheinbar passendem Material. Wie sich das zeigt? Zwei Personen haben das gleiche erlebt, dennoch sind die Geschichten, die sie uns dazu erzählen, reichlich verschieden. Wiederholen wir eine Begebenheit oft im Geiste oder verbal, glauben wir am Ende sogar an unsere eigenen Lügen.
Kognitive Verzerrungen: Nicht selten reichlich gefährlich
Jeder, der mit Menschen im Unternehmen zu tun hat, sollte die den kognitiven Verzerrungen zugrunde liegenden Erklärungsansätze kennen, weil sie beim Entscheiden und Umsetzen eine folgenschwere Rolle spielen können. Hier eine kleine Sammlung:
- Der Selfherding-Effekt: Menschen wiederholen gern Aktivitäten, in denen sie früher mal siegreich waren. Dieses Verhalten wird als „Selfherding“ bezeichnet. Ähnlich dem Herdenverhalten folgen wir unreflektiert der „Herde“ unserer Entscheidungen aus der Vergangenheit. Dies bewirkt, dass wir uns in unsere eigenen Ideen verlieben. Werden diese oft von Erfolg gekrönt, verfallen mache einem gefährlichen Glauben an die eigene Großartigkeit. „Dem ist sein Erfolg zu Kopf gestiegen“, weiß der Volksmund. Von Selbstzweifeln befreit kann dies zu Allmachtsphantasien, zu Realitätsverlusten und zur Illusion der Unbesiegbarkeit führen.
- Der Social-Proof-Effekt: Dies ist ein psychologisches Phänomen, bei dem Menschen sich in ihrem Verhalten an dem ihrer Mitmenschen orientieren. Sie übernehmen oder imitieren deren Handlungen in der Annahme, dass diese in einer jeweiligen Situation angemessen sind. Weil es alle so machen, muss es wohl richtig sein, bilden wir uns ein. Dabei kann die Meinung der Masse ebenso als Referenz dienen wie die einer einzelnen Autorität. Zum Beispiel? Ist der Chef für oder gegen eine Sache, sind plötzlich alle dafür oder dagegen – bisweilen bewusst, oft aber unbewusst. „Executive Isolation“ ist eine gefährliche Folge. Obere bekommen nur noch zu hören, was sie hören wollen. Alle reden einem unhinterfragt nach dem Mund.
- Der Besitztumseffekt: Dieser Effekt besagt, dass Menschen dazu tendieren, eine Sache als wertvoller zu betrachten, sobald sie sie besitzen. So kann es zunächst nach einer Entscheidung zu einer Art Kaufreue kommen („Wäre das Andere nicht vielleicht doch besser gewesen?“). Diese unangenehme Spannung, kognitive Dissonanz genannt, lösen wir auf, indem wir die getroffene Entscheidung aufwerten und schönreden. Das gilt auch bei Regeln. Wir neigen tendenziell dazu, im betrieblichen Alltag Regeln, die wir befolgen, als nützlicher zu betrachten, als sie sind. Denn das Eingeständnis, einer unsinnigen Regel zu folgen, würde kognitive Dissonanz auslösen. Ähnliches gilt für Prozesse, Strukturen und Methoden. Wer sie entwickeltbeziehungsweise eingeführt hat, schätzt sie in ihrer Nützlichkeit oft höher ein und hält stärker an ihnen fest. Ergo: Die Lieblingsprojekte des Chefs sind tabu. Die lässt man besser in Ruh. Genau das steht notwendigen Neuerungen dann oft im Weg.
- Die Verlustaversion: Dies ist die Tendenz, mögliche Verluste höher zu gewichten als mögliche Gewinne. Nachgewiesen wurde diese Verhaltensbesonderheit vor allem mithilfe verschiedener Gewinnspielexperimente und auch an der Börse. Sie bezieht sich aber nicht nur auf monetäre Situationen, sondern ist universeller. In Organisationen macht sie sich etwa bei der Frage bemerkbar, ob eine alte Methode oder ein etabliertes Produkt durch etwas Neues ersetzt werden soll. Die möglichen Nachteile, die eine Abschaffung mit sich bringen kann, werden im Vergleich zu den möglichen Vorteilen des Neuen tendenziell überbewertet. Dies führt dazu, dass wir vieles am liebsten beim Alten belassen, selbst dann, wenn uns das zurückwirft.
- Der Unterlassungseffekt: Als Unterlassungseffekt wird die menschliche Vorliebe bezeichnet, die Risiken eines Handelns überzubewerten und die Risiken des Nichthandelns zu unterschätzen. Also: Den anscheinend überflüssigen Prozess gibt man lieber doch nicht auf, denn wer weiß, vielleicht ist er noch für etwas gut. Dieser Effekt ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass in Gemeinschaften unerwünschte Handlungen in aller Regel stärker sanktioniert werden als Unterlassungen, auch dann, wenn die Folgen beider Optionen dieselben sind.
- Die Status-quo-Verzerrung: Ein Konzept, einen Prozess oder ein Ritual zu entsorgen, bedeutet immer auch eine Veränderung. Am liebsten haben es die meisten Menschen jedoch, wenn alles so bleibt, wie es ist. Ein Grund: Jede Veränderung erfordert eine Anpassungsleistung des Gehirns, und das ist auf Energiesparen programmiert. So wird die übermäßige Bevorzugung des Status quo als Status-quo-Verzerrung bezeichnet. Die Macht der Gewohnheit hat uns in vielerlei Lebenslagen im Griff. Im Unternehmensalltag ist sie allgegenwärtig.
- Der Selbstüberschätzungseffekt: Hierbei neigen wir dazu, eine eigene Fähigkeit oder Leistung zu überschätzen – und die der anderen zu unterschätzen. So glaubt fast jeder von sich, selbst ein guter Autofahrer zu sein. Den meisten anderen hingegen traut er weniger zu. Eng damit verwandt ist der Dunnig-Kruger-Effekt. Der Name geht auf Untersuchungen von David Dunning und Justin Kruger zurück. Im Kern geht es dabei um das Selbstverständnis inkompetenter Menschen, die das eigene Wissen und Können überbewerten. Diese Neigung beruht auf der Unfähigkeit, sich selbst objektiv beurteilen zu können, überlegene Fähigkeiten bei anderen nicht zu erkennen und das Ausmaß der eigenen Inkompetenz falsch einschätzen.
Haben sich derartige Denkmuster einmal verfestigt, wird unsere gesamte Wahrnehmung davon gesteuert. Was unsere Überzeugungen widerspiegelt, nutzen wir als Verstärker, was nicht dazu passt, blenden wir aus. Wie man sich firmenintern davor schützt? Indem man es thematisiert. Zum Beispiel mit einer Methode namens „Elephant in the room“.
„Elefant im Raum“, um Verzerrungen zu thematisieren
Warum Elefant? Weil es um etwas wirklich Großes geht: ein offensichtliches Problem, das zwar im Raum steht, aber nicht offen angesprochen wird. So kann mithilfe des „Elefanten im Raum“ eine längst überfällige Diskussion angestoßen werden. Stellen Sie im Rahmen eines Strategiemeetings zum Beispiel folgende Frage: „Wenn es um unsere unternehmerische Zukunft geht, was ist die wichtigste kognitive Verzerrung, die bei uns Usus ist, über die offiziell niemand spricht, worüber wir aber unbedingt reden sollten?“
Initiiert wird dieser Prozess am besten von jemandem aus dem Managementteam, der offensichtliche Beharrungstendenzen nicht länger tolerieren kann oder will. Malen Sie hierzu die obige Grafik auf eine Pinnwand. Erklären und diskutieren Sie zunächst die einzelnen Phänomene. Finden Sie interne Beispiele dazu. Lassen Sie dann von den Teilnehmern bewerten, wie hoch jedes Phänomen im Unternehmen ausgeprägt ist.
Die Pinnwand mit der Grafik wird dazu umgedreht, so dass die Anwesenden ihre Bewertung anonym machen können. Damit jeder seine Punkte unbeeinflusst von anderen aufkleben oder malen kann, soll er diese für sich festlegen, bevor er/sie hinter die Pinnwand tritt, um dem Social-Proof-Effekt zu entkommen. Arbeiten Sie bei diesem Anlass unbedingt mit einem Moderator.
Vorab kann es klug sein, eine „Sicherheitsfrage“ zu stellen. Zeichnen Sie dazu auf eine zweite Pinnwand eine Elfer-Skala und fragen Sie dann: „Auf dieser Skala von null bis zehn: Wie frei denken Sie/denkt Ihr, in dieser Runde sprechen zu können?“ Liegen viele der Bewertungen unter acht, wird das zunächst thematisiert. Danach ist die Bahn frei für das eigentliche Thema. Ist die Abstimmung erfolgt, befassen Sie sich im ersten Schritt mit Lösungswegen für die Verzerrung, die die höchste Punktzahl bekommen hat.
Das Buch zum Thema:
Anne M. Schüller, Alex T. Steffen
Die Orbit-Organisation
In 9 Schritten zum Unternehmensmodell
für die digitale Zukunft
Gabal Verlag 2019, 312 Seiten, 34,90 Euro
ISBN: 978-3869368993
Finalist beim International Book Award 2019
Anne M. Schüller ist Managementdenker, Keynote-Speaker, mehrfach preisgekrönte Bestsellerautorin und Businesscoach. Die Diplom-Betriebswirtin gilt als führende Expertin für das Touchpoint Management und eine kundenfokussierte Unternehmensführung. Zu diesen Themen hält sie Impulsvorträge auf Tagungen, Fachkongressen und Online-Events. 2015 wurde sie für ihr Lebenswerk in die Hall of Fame der German Speakers Association aufgenommen. Beim Business-Netzwerk Linkedin wurde sie Top-Voice 2017 und 2018. Von Xing wurde sie zum Spitzenwriter 2018 und zum Top Mind 2020 gekürt. Ihr Touchpoint Institut bildet zertifizierte Touchpoint Manager und zertifizierte Orbit-Organisationsentwickler aus.