Ist die 6-Tage-Woche ein Modell, das auch für Deutschland interessant sein könnte? Unvorstellbar, meint Philipp Riedel, CEO bei Avantgarde Experts, und plädiert stattdessen dafür, brachliegende Potenziale in Teams zu heben und die Produktivität zu steigern. Ergebnisse müssen der Maßstab für erfolgreiche Arbeit sein, nicht das Absitzen von Arbeitsstunden. Er gibt vier Tipps, wie dies im Unternehmen gelingen kann.
Seit dem 1. Juli 2024 ist es Unternehmen in Griechenland gesetzlich gestattet, ihren Beschäftigten anzubieten, sechs statt bisher fünf Tage in der Woche zu arbeiten. Ein Vergleich zwischen den Wirtschaftsstandorten Griechenland und Deutschland hinkt jedoch – und damit auch die Diskussion um die 6-Tage-Woche. Während es dort sowohl für die Wirtschaft als auch für viele Menschen ums Überleben geht, gilt es hierzulande unsere starke Wirtschaftsleistung und unsere Attraktivität als Innovationsstandort aufrechtzuerhalten.
Eine 6-Tage-Woche würde uns für die dringend benötigten Fachkräfte noch unattraktiver als ohnehin schon machen – das wäre ein entscheidendes K.O.-Kriterium. Schließlich ist uns das angrenzende Ausland, wie beispielsweise die Niederlande oder Österreich, hinsichtlich attraktiver Arbeitsbedingungen schon einiges voraus: Hier werden Expertinnen / Experten teilweise mit extremen Steuervergünstigungen ins Land gelockt.
Wer kommt noch zu uns, wenn wir in Deutschland eine 6-Tage-Woche einführen würden? Wichtige Fachkräfte aus Tech, Mobility und Co., die sich nach wie vor ihre Jobs aussuchen können, würden unser Land verlassen und noch weniger Menschen würden sich für Deutschland als Arbeitsort entscheiden. Der bereits bestehende Fachkräftemangel würde sich verschärfen und wertvolles Know-how ginge verloren. Gleichzeitig steigt mit einer 6-Tage-Woche die Gefahr der Ausbeutung im Niedriglohnsektor. Zudem reduziert ein zusätzlicher Arbeitstag die Erholungsphase. Das Risiko: Ein Teufelskreis entsteht, bei dem durch weniger Ruhepausen die Produktivität und Leistungsfähigkeit an den übrigen fünf Tagen geschwächt wird.
Eine Chance bietet die 6-Tage-Woche für Branchen mit saisonalen Schwankungen wie beispielsweise die Landwirtschaft oder die Gastronomie. Hier ist es teilweise bereits etabliert, dass in der Hochsaison mehr gearbeitet werden kann und in der Nebensaison Überstunden entsprechend abgebaut werden können. Ein besonderer Anreiz und eine Entlastung für die Arbeitnehmende wäre es, wenn diese saisonale Mehrarbeit besonders vergütet, beziehungsweise steuerlich entlastet würde.
Quiet Potential Loss: Brachliegende Skills und die dramatischen Folgen
Eine weitere Gefahr eines zusätzlichen Arbeitstages: Absitzen der Arbeitszeit anstatt erfolgreich umgesetzter Projekte. Denn ein ernst zu nehmendes Problem der Unternehmen ist der Quiet Potential Loss. Das bestätigt auch unsere repräsentative Arbeitszufriedenheits-Studie 2024: So finden 42 Prozent der Arbeitnehmerinnen / Arbeitnehmer in Deutschland, dass ihr Potenzial mit den aktuellen Aufgaben noch nicht ganz ausgeschöpft ist oder sie sich sogar unterfordert fühlen.
Hierzulande bringt also fast die Hälfte der Angestellten ihre Fähigkeiten nicht vollständig ins Unternehmen ein – erschreckend! Für Arbeitgeber hat das dramatische Folgen: Verlust von Innovationsfähigkeit sowie Wettbewerbsfähigkeit und begehrte Fachkräfte, die aufgrund von Unterforderung das Unternehmen verlassen.
Wir müssen weg vom Präsentismus und hin zur Ergebnisorientierung! Konkret bedeutet das: Ergebnisse müssen der Maßstab für erfolgreiche Arbeit sein. Auch wenn gerade in Wissensberufen die besten Ideen und Projekte manchmal Zeit brauchen, dürfen reine Arbeitsstunden niemals das einzige Argument für gute Arbeit sein.
Potentiale heben: 4 Tipps gegen den Quiet Potential Loss
Mehr Arbeitsstunden = mehr Umsatz? Diese Gleichung geht in vielen Berufen – und besonders im White Collar-Bereich – nicht auf. Stattdessen sollten deutsche Unternehmen an anderen Stellschrauben drehen, um den Innovationsanschluss und die internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht zu verlieren:
1. Produktivität statt Larifari:
Damit die richtigen Mitarbeitenden ihre Fähigkeiten an der richtigen Stelle einbringen können, sind ein nachhaltiges Personalmanagement und ergebnisorientierte Führung gefragt. Wir brauchen eine Trainermentalität in deutschen Chefetagen! Daher lautet meine Empfehlung an alle Managerinnen / Manager: Plant eure Mitarbeitenden dort ein, wo sie ihre volle Leistung erbringen können– das ist euer Job! Es gilt, jeden Einzelnen entsprechend seines Talentes, Interessen und auch unter Berücksichtigung der aktuellen Lebensphase einzusetzen.
2. Leistungsumfeld schaffen:
Sowohl Unternehmen als auch die Politik sollten entsprechende Rahmenbedingungen schaffen, so dass möglichst viele Menschen ihre Arbeitskraft vollumfänglich einbringen können. Durch flexible Arbeitszeiten, Shared-Leadership-Modelle oder Homeoffice-Möglichkeiten können Arbeitgeber beispielsweise für eine bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben sorgen.
Doch auch für die Politik gibt es zum Beispiel durch ausreichend Betreuungsplätze für Kinder oder Unterstützung bei der Pflege von Angehörigen viel Handlungsspielraum. Neben zeitgemäßen Arbeitsbedingungen spielt zudem ein attraktives Gehalt nach wie vor eine entscheidende Rolle, um die besten Talente zu gewinnen und zu halten. Die Arbeitszufriedenheitsstudie 2024 zeigt: Auf Patz eins nennen 56 Prozent das Gehalt als wichtigsten Faktor für Jobzufriedenheit – und zufriedene Mitarbeitende sind motivierter, was sich positiv auf den Unternehmenserfolg auszahlt.
3. Exzellente Leistung beginnt in der Chefetage:
Managerinnen / Manager haben im Unternehmen eine zentrale Vorbildfunktion inne und geben dem Team Orientierung. Wer von seinen Mitarbeitenden Top-Ergebnisse und einen hohen Leistungsanspruch erwartet, sollte als Chef(-in) diesem Anspruch selbst gerecht werden. Zudem sorgt ein veränderungsbereites, flexibles und offenes Leadership-Mindset für kontinuierliche Weiterentwicklung und einen konstruktiven Austausch innerhalb des Teams. Durch transparente Kommunikation, Verlässlichkeit und ein integreres Verhalten der Vorgesetzten entsteht eine vertrauensvolle Unternehmenskultur, in der jeder sein volles Potenzial einbringen kann.
4. Identifikation der Mitarbeitenden mit Unternehmenserfolg:
Einen Beitrag zum Unternehmenserfolg zu leisten, steigert das Engagement, die Motivation und die Zufriedenheit. Dennoch fühlt sich laut der aktuellen Arbeitszufriedenheits-Studie lediglich jeder Vierte (25 Prozent) vollkommen für den Unternehmenserfolg mitverantwortlich. Mit transparenten Entscheidungsprozessen und einer offenen Kommunikation gelingt es Chefinnen / Chefs, die Beteiligung und das Engagement des Einzelnen zu fördern.
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Philipp Riedel ist CEO der Personalberatung AVANTGARDE Experts. Das Unternehmen vermittelt Fach- und Führungskräfte aus den wichtigsten Unternehmensbereichen und verfügt über Standorte in München, Hamburg, Köln, Stuttgart und Dubai. Zu den über 1.000 Kunden zählen nationale und internationale Markenkonzerne, mittelständische Betriebe sowie Agenturen und Startups.